Sein Tod bewegt die Welt: Der aus Rumänien stammende Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel ist am Samstag im Alter von 87 Jahren in New York verstorben. Vielen Menschen gilt der 1955 in die USA eingewanderte Jude als moralisches Vorbild. In Israel ist sein berühmtes Buch „Nacht“ aus dem Jahr 1956, in dem er seine Erlebnisse in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern schildert, relativ unbekannt. Doch israelische Politiker stimmen ein in die internationalen Lobeshymnen.
Staatspräsident Reuven Rivlin würdigte Wiesel am Samstagabend als „Helden des jüdischen Volkes und Giganten aller Menschlichkeit“. „Elie Wiesel, seligen Andenkens, verkörperte die Bestimmung des menschlichen Geistes, die dunkelsten Übel zu überwinden und entgegen aller Hoffnung zu überleben“, wird er in einer Mitteilung des Präsidialamtes zitiert. Der Verstorbene habe sein Leben dem Kampf gegen allen Hass gewidmet – „um des Menschen willen, der nach Gottes Ebenbild erschaffen wurde“. Das Staatsoberhaupt schließt mit den Worten: „Möge seine Erinnerung zum Segen sein, für immer eingraviert im Herzen der Nation.“
Premierminister Benjamin Netanjahu ließ verlauten: „Der Staat Israel und das jüdische Volk betrauern den Tod von Elie Wiesel. Durch seine unvergesslichen Bücher, bewegenden Worte und sein persönliches Beispiel personifizierte Elie den Triumph des menschlichen Geistes über das unvorstellbarste Übel. Aus der Finsternis des Holocaust wurde Elie eine starke Kraft für Licht, Wahrheit und Würde.“ Der Regierungschef ergänzte laut Mitteilung seines Büros, er selbst habe von der „ungeheuren Weisheit“ des Überlebenden lernen können.
Würdigung aus Deutschland
Anerkennende Worte kommen auch aus Deutschland. Bundespräsident Joachim Gauck kondolierte der Witwe Marion Esther Wiesel: „Wir haben einen großartigen Menschen und außerordentlichen Gelehrten und Schriftsteller verloren.“ Weiter schrieb er: „Mit eindringlichen und empathischen Worten verstand es Ihr Mann, als Zeitzeuge die Erinnerung an die dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte wach zu halten und vor allem junge Menschen vor den Gefahren von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu warnen.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete den Verstorbenen als „eindringlichen Mahner und großherzigen Versöhner“. Er habe „uns Deutschen die Hand ausgestreckt, hat mit uns unermüdlich daran gearbeitet, eine bessere Welt zu ermöglichen“. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier erinnerte an Wiesels „beeindruckende Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2000“. Dabei habe er der deutschen Jugend sein Vertrauen ausgedrückt, „eine bessere Gesellschaft zu schaffen, als er selbst es in seiner Kindheit erleben musste. Darin steckte eine tief bewegende Botschaft der Hoffnung und der Verantwortung, die wir uns gerade heute zu Herzen nehmen sollten“.
Elie Wiesel kam am 30. September 1928 im rumänischen Sighet Marmației zur Welt. Im Mai 1944 wurde er als 15-Jähriger mit seiner Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Seine Eltern und die jüngste Schwester wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Wiesel erlebte die Befreiung im April 1945 in Buchenwald. 1955 wanderte er in die USA aus. Dort gründete er gemeinsam mit seiner Ehefrau die
Elie-Wiesel-Stiftung für Menschlichkeit. Sie will nach eigenen Angaben „Gleichgültigkeit, Intoleranz und Ungerechtigkeit durch internationalen Dialog und Jugendprogramme bekämpfen, die Akzeptanz, Verständnis und Gleichheit fördern“. Im Jahr 1986 erhielt der Schriftsteller den Friedensnobelpreis. Er hat die Bezeichnung „Holocaust“ für die Massenermordung der europäischen Juden geprägt. Wörtlich heißt das aus dem Griechischen entlehnte Wort „völlig verbrannt“, es kann aber auch als „Brandopfer“ wiedergegeben werden.
Mögliche Gründe für die mangelnde Anerkennung in Israel
In einem eigenartigen Gegensatz zur weltweiten Bewunderung steht das Verhältnis der israelischen Bevölkerung zu dem Überlebenden der Scho‘ah. Er hat nach Angaben von Yad Vashem eng mit der Jerusalemer Holocaustgedenktstätte zusammengearbeitet. So bezogen ihn die Mitarbeiter in die Planungen für das 2005 eröffnete Museum ein. Doch dies reichte offenbar nicht aus, um die Israelis für ihn einzunehmen. Und so merkt die Journalistin Judy Maltz in der linksliberalen Tageszeitung „Ha‘aretz“ an: „Elie Wiesel, der dieses Wochenende mit 87 starb, mag der berühmteste Holocaustüberlebende in der Welt gewesen sein. Aber ironischerweise brachte ihm das nie eine große Gefolgschaft in Israel ein.“
Das Blatt weist darauf hin, dass Wiesels bekanntestes Buch, „Nacht“, in den Schulen der USA Pflichtlektüre sei. Hingegen sei es nie in den israelischen Lehrplan aufgenommen worden. Das Tel Aviver „Herzlija-Gymnasium“ ist die älteste hebräische Schule im Land. Deren Direktor Se‘ev Degani sagte: „Wir haben ein paar Exemplare in unserer Bibliothek. Aber ich würde annehmen, dass die Zahl der Schüler, die es wirklich gelesen haben, an die Null geht.“
Die Anthropologin Jackie Feldman von der Ben-Gurion-Universität, die für ihre Forschungen Schülergruppen zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau begleitet hat, pflichtet ihm bei. Das Buch sei bei den jungen Israelis kein Thema gewesen. Sie hätten eher die Werke des Auschwitz-Überlebenden Jehiel De-Nur, der unter dem Namen „Ka-Tzetnik 135633“ publizierte, oder des italienischen Schriftstellers Primo Levi gelesen.
Kritik von links und rechts
Bezeichnend sei ebenfalls, dass Wiesel nur zwei seiner zahlreichen Ehrendoktorwürden von israelischen Universitäten erhalten habe, schreibt „Ha‘aretz“. Die Chefhistorikerin von Yad Vashem, Dina Porat, beklagt, dass es selbst über diese Verleihungen nur eine spärliche Berichterstattung in Israel gegeben habe. Sie begründet dies mit Kritik von linken Aktivisten und Intellektuellen, weil sich der Nobelpreisträger nicht gegen ihre Regierung ausgesprochen habe. Er habe immer Partei für Israel ergriffen, egal, worum es ging. Sich mit einer negativen Beurteilung zurückzuhalten, sei für ihn ein Grundsatz gewesen. „Immer wenn er danach gefragt wurde, sagte er, dass er, weil er nicht hier lebe, nach eigenem Empfinden nicht das Recht auf Kritik habe.“
Schulleiter Degani meint hingegen, Wiesels sehr universelle Botschaft sei für viele Israelis schwer zu verdauen gewesen, vor allem für die Rechten: „Er war ein Intellektueller, der den Holocaust aus dem Ghetto holte und ihn gebrauchte, um die Welt über Rassismus zu aufzuklären.“ Dies habe nicht zur „isolationistischen Agenda vieler Israelis“ gepasst. Hinzu komme, dass der Schriftsteller im Ausland lebte. „Es gibt hier eine Auffassung, dass man nicht das Recht habe, uns Menschenrechte und den Holocaust zu lehren, wenn man nicht hier lebt.“
Porat weist gegenüber „Ha‘aretz“ darauf hin, dass es in Israel Zehntausende Überlebende gegeben habe. Unter ihnen seien große Schriftsteller, viele seien besser als Wiesel. Anthropologin Feldman sieht einen weiteren Grund für das Missverhältnis: „In ‚Nacht‘ stellt er Gott vor Gericht. So etwas können die Ultra-Orthodoxen nicht akzeptieren, und für säkulare Kibbutzniks, die nicht an Gott glauben, ist es bedeutungslos. Bis zu den 1980ern war die religiöse Spaltung in Israel so weit, dass es keinen Raum für jemanden gab, der solche Ausdrücke verwendete.“
Würdiges Begräbnis für „den größten Zeugen des Holocaust“
Wiesel hat sich nach dem Überleben der unsäglichen Verfolgung gegen den Weg der Rache entschieden. Stattdessen nahm er den Kampf gegen Unmenschlichkeit auf. Besonders eindringlich ist seine Beschreibung im Buch „Nacht“, als er in Auschwitz-Birkenau eingetroffen war:
„Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich diese kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.“
Am Sonntag wurde Elie Wiesel in der Nähe von New York beigesetzt. Der mit ihm befreundete Rabbiner Shmuley Boteach sagte anschließend der Tageszeitung „New York Times“: „Was mir die ganze Zeit durch den Kopf ging, war, dass den sechs Millionen aus dem Holocaust nie die Würde eines Begräbnisses gewährt wurde; ihre Asche wurde einfach verstreut. Hier hatten wir das Vorrecht, den größten Zeugen des Holocaust zu bestatten.“ (eh)