Frankreichs Botschafter in Israel, Patrick Maisonnave, scheint echt berührt. „Unzählige Botschaften der Teilnahme haben uns erreicht. Tausende Menschen sind auf die Straßen gegangen und haben ihre Solidarität bekundet. Danke, Herr Premierminister“, wendet er sich direkt an Benjamin Netanjahu, „dass Sie die Flaggen in Ihrem Land auf Halbmast gesetzt haben.“
Tatsächlich dürfte eine überwiegende Mehrzahl der Israelis mit „Amen“ quittieren, wenn Maisonnave konstatiert: „Eine unerschütterliche Freundschaft eint unsere Länder.“ Die Anschlagsserie in Paris, in der Nacht vom 13. auf den 14. November 2015, bei der 130 Menschen getötet und weit mehr als 400 teils schwer verletzt wurden, hat Israel erschüttert. Das kleine Land am Ostrand des Mittelmeers hat nicht nur eine große Anzahl französisch-stämmiger Bürger, sondern hat auch nicht vergessen, dass Frankreich in schweren Zeiten entscheidend Hilfe geleistet hat.
„Warum wacht Frankreich eigentlich erst jetzt auf?“, fragt ein junger Journalist des Fernsehsenders „i24news“ mit starkem französischem Akzent. Im Rahmen seiner Recherchen war ihm aufgefallen, dass er selbst vor wenigen Jahren mit einem der Terroristen im selben Jahrgang dasselbe Gymnasium besucht hatte. Niemand hätte überrascht sein müssen, meint Professor Ejal Zisser von der Universität Tel Aviv. Umfragen unter der muslimischen Bevölkerung von Paris hätten ergeben, dass 20 Prozent der französischen Muslime mit dschihadistischen Gruppierungen sympathisierten. „Die Zeichen standen an der Wand!“
„Wir wachen nicht erst jetzt auf zu einer neuen Realität!“, geht der französische Botschafter auf diese Anfragen ein: „Frankreich hat, genau wie Israel, eine lange Geschichte als Ziel des Terrorismus.“ Um das zu belegen, verweist Maisonnave auf 40.000 französische Soldaten, die in Afghanistan gedient haben. Mehr als hundert haben den Kampf gegen den Terror mit dem Leben bezahlt. Aber so ganz scheint der französische Diplomat mit seinem Vergleich der Lage Israels mit der seines eigenen Landes selbst nicht zufrieden zu sein. Wenige Atemzüge später formuliert er selbst die schon fast vorwurfsvolle Frage, die sich – so der Botschafter selbst – „Israelis gestellt haben mögen“: „Wo war Frankreich, als Israel angegriffen wurde?“
„Haben Sie‘s jetzt endlich kapiert?“
Am Abend des 13. November, als alle Welt schockiert nach Paris blickte, wurden nahe Otniel in den südlichen Hebronbergen Rabbi Ja‘akov Litman und sein Sohn Netanel erschossen. Ein vorbeifahrender Krankenwagen des Palästinensischen Roten Halbmonds
ignorierte die Schwerverletzten einfach. Dieser
Vorfall, der sich praktisch zeitgleich mit der Anschlagsserie in Paris ereignete, wurde von den internationalen Medien fast völlig ignoriert – und wird jetzt von Israelis in unterschiedlichen Kontexten immer wieder erwähnt. Man betont die Parallelen zwischen den Erfahrungen Europas und der eigenen Situation. Dass die beiden Litmans „Siedler“ waren, scheint den Mord in europäischen Ohren irgendwie weniger schlimm werden zu lassen. Die stets brillant-aggressive Starjournalistin der „Jerusalem Post“, Carline B. Glick, bringt auf den Punkt, was viele Israelis denken: „Haben die Europäer es dieses Mal kapiert?“
Israelis sind enttäuscht davon, dass – so ihre Sicht – „westliche Eliten eifrig dabei sind, die Radikalen zu rechtfertigen“. Als Ursache allen Terrors werde der „repressive Westen, die Zionisten, und vielleicht noch die Weltherrschaft der Juden“ gesehen.
Israel als Vorreiter im Anti-Terror-Kampf
Als Schwedens Außenministerin
Margot Wallström die Pariser Anschläge in Verbindung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt brachte, reagierte das offizielle Israel sehr empfindlich. Emanuel Nahschon, Sprecher des israelischen Außenministeriums in Jerusalem, ließ alle diplomatische Zurückhaltung fallen, sprach von „schockierender Chutzpe“, einer „systematischen Stellungnahme gegen Israel“ und „echter Feindseligkeit“. Jeder, der die Ursachen des extremistischen Islams im israelisch-palästinensischen Konflikt sucht, erklärte Nahschon, „täuscht sich selbst, sein Volk und die internationale Öffentlichkeit“.
Professor Zisser schreibt sarkastisch: „Wenn palästinensischer Terror gegen Israel tatsächlich der Hoffnungslosigkeit und Not entspringt, dann müssten logischerweise auch die Pariser Anschläge eine Folge davon sein, dass sich Frankreich der Koalition angeschlossen hat, die den ‚Islamischen Staat‘ in Westafrika, in Syrien und im Irak bekämpft. Und Russland hätte den
Absturz von MetroJet Flug 9268 gar selbst verschuldet, weil Putin Assad zu Hilfe gekommen ist.“
Israel hofft, dass Europa endlich versteht: „Palästinensischen Terror gibt es nicht wegen der Besatzung, nicht, weil es keinen Friedensprozess gibt oder weil die Palästinenser keinen Staat haben.“ Und: „Das Ziel der Palästinenser ist seit Jahrzehnten nicht, einen eigenen Staat zu errichten, sondern den jüdischen Staat zu zerstören.“ Man will endlich als Vorreiter des Westens im Kampf gegen den dschihadistischen Islam verstanden werden – und nicht länger als letztes Überbleibsel des europäischen Kolonialismus. Es ist absurd, so Premierminister Netanjahu, dass man die Opfer verantwortlich macht.
Terrorexperte: Anschläge waren strategischer Fehler
Israelische Sicherheitsexperten fragen sich, wie eine derart komplizierte Anschlagsserie – an sieben Stellen gleichzeitig – unbemerkt vorbereitet werden konnte. Wie belgische und französische Staatsbürger unentdeckt so große Mengen an Waffen und Sprengstoffen anhäufen konnten. Einer der Attentäter war der 28-jährige Franzose Samy Amimour. Bereits vor drei Jahren war er wegen Terroraktivitäten angeklagt worden, stand unter Beobachtung. Gegen ihn bestand ein internationaler Haftbefehl. Waren die Anschläge auf „Charlie Hebdo“ und den koscheren Lebensmittelladen „Super Casher“ nicht genug Warnung gewesen?
Andere beobachten eine Wende im Vorgehen des „Islamischen Staates“. Dem Bombenanschlag auf die russische Chartermaschine im Sinai und jetzt der Anschlagsserie auf Paris scheint eine strategische Entscheidung zugrunde zu liegen, nicht mehr nur ein Kalifat in der Levante aufbauen zu wollen. Will der IS jetzt weitere westliche Einrichtungen angreifen? Richten sich diese Anschläge nur gegen direkt am Krieg in Syrien Beteiligte? Will „Daesch“ jetzt den Dschihad in die westliche Welt exportieren?
Eli Karmon vom Institut für Terrorbekämpfung am Interdisziplinären Zentrum in Herzlija meint, die Organisation, die aus der irakischen Al-Qaida hervorgegangen ist, habe mit den Anschlägen in Paris einen schweren strategischen Fehler begangen. Jetzt sei der Westen provoziert, nicht nur in Syrien und im Irak, sondern möglicherweise auch in Libyen und Nigeria, einen totalen Vernichtungskrieg gegen die Islamisten zu führen. Damit habe sich gezeigt, dass „Daesch“ „nicht so diszipliniert und pragmatisch wie seine Geistesverwandten – die ägyptische Muslimbruderschaft, die palästinensische Hamas oder die AKP, die in der Türkei regiert“ – sei, und offensichtlich zuhause immer mehr unter Druck gerate.
Der Arabist Reuven Berko erklärt, die Islamisten verfolgten einen durchdachten, globalen Plan. Nicht zufällig hätten sie ihren Blick auf Rom gerichtet, das eigentliche Ziel des radikalen Islam im Kampf gegen „die Kreuzfahrer“. Er erkennt „einen gewaltsamen und zielgerichteten Operationscode, der tief eingebettet ist in den Islam als Teil der Lehre und des Vermächtnisses des Propheten Mohammed, weiterentwickelt wurde von der Muslimbruderschaft, die der Nährboden des ‚Islamischen Staates‘, der Al-Qaida, der Hamas und des Islamischen Dschihad ist“.
Dann beklagt Berko, dessen Frau Anat über Selbstmordattentäterinnen promoviert hat und seit den letzten Wahlen
als Likud-Abgeordnete in der Knesset sitzt, die Schwäche des Westens, seine Hingabe an den Pluralismus, Menschen- und Bürgerrechte. „Europa hat sich durch seine politische Korrektheit selbst entmannt“, lamentiert ein Kolumnist der Verteilzeitung „Israel Hajom“. Der renommierte Journalist Dan Margalit sieht ebenso wie Reuven Berko einen direkten Zusammenhang zwischen der Schwäche des Westens und dem Aufblühen des dschihadistischen Terrors. „Die Schwäche des Westens hat ein Vakuum geschaffen, das der Terrorismus auszufüllen sucht“, doziert Berko, und: „Wer schwach ist, muss einen hohen Preis bezahlen.“
Die Kurden als „beste Kampftruppe der Gegend“
Premierminister Netanjahu weiß: Wer Terror besiegen will, muss den Feind „identifizieren, verurteilen, bekämpfen“. „Israel Hajom“ befürchtet, François Hollande, John Kerry und Barack Obama hätten schon kapituliert, noch bevor der eigentliche Kampf begonnen hat. „Lehrt eure Zungen, den Feind beim Namen zu nennen“, ruft Dror Eydar: „Es ist der dschihadistische Islam!“ Professor Zisser hofft nur, „dass die Franzosen jetzt nicht selbst praktizieren, was sie den Israelis seit Jahren gepredigt haben, sondern, ganz im Gegenteil, endlich von den Israelis lernen, wie man einen unerbittlichen Krieg gegen Terror-Organisationen führt, die keinerlei Interesse an Dialog, Frieden oder Koexistenz zeigen.“ Die linksliberale „Ha‘aretz“ gibt bei alledem zu bedenken, dass „demokratische Werte und Kampf gegen den Terror keinesfalls ein Widerspruch“ seien. „Vielmehr sind unsere demokratischen Werte der Grund dafür, warum wir Terror unerbittlich bekämpfen müssen.“
Der ehemalige Mossad-Chef Schabtei Schavit hält mit konkreten Handlungsanweisungen für den Krieg des Westens gegen den radikalen Islam nicht zurück. Die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten müssten jetzt „den ‚Islamischen Staat‘ auswischen, wie sie die deutsche Stadt Dresden“ gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ausgewischt haben. „Der ‚Islamische Staat‘, das sind 30.000 Menschen, die nur ihre Grausamkeit und ihre Lust auf Mord vereint“, weiß der gealterte Geheimdienstler und spart bei seiner Analyse nicht mit historischen Vergleichen: Die Zerstörung, die der IS gebracht hat, habe nichts Vergleichbares, „seit den Tagen, als die Hunnen im 5. Jahrhundert in Zentralasien und Europa eingefallen sind“. Deshalb fordert er die USA und Europa auf: „Hört auf zu reden, handelt!“ Konkret könne der Westen gleich schon mal die kurdischen Kämpfer mit Panzern und ernstzunehmenden Rüstungsgütern ausstatten, rät Schavit. Die Kurden hätten ihren Wert unter Beweis gestellt und seien momentan die beste Kampftruppe in der Gegend.
Für die Start-up-Nation Israel, das technologische Hub, das Volk der Innovatoren, scheint sich derweil Europas Terrorbedrohung zur Bonanza zu entwickeln. Tatsächlich waren wenige Tage vor der Anschlagsserie aus Israel Warnungen vor Terroranschlägen in Frankreich zu hören gewesen. Jetzt laufen in israelischen Firmen, die weltweit führend sind in der Sicherheitsindustrie, die wissen, wie man Menschen aus weiter Ferne sicher identifiziert oder jemandem im Internet nachverfolgt, die Telefone heiß. (jg)