Wie elektrisiert blickte Reverend William Hechler auf das Buch, das er in einer Buchhandlung entdeckt hatte: „Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“. Der Buchhändler erklärte dem anglikanischen Botschaftskaplan der englischen Gesandtschaft zu Wien, dass der Autor, Theodor Herzl, Wiener sei. Schließlich erinnerte sich Hechler, dass ihm der Name Herzl als Berichterstatter über die Dreyfus-Affäre in Paris und als Autor von Bühnenstücken des Burgtheaters bereits begegnet war.
Hechler setzt alles daran, um mit Herzl in Kontakt zu treten. Wenig später kündigt sich in dessen Büro ein Besucher per Visitenkarte an. Herzl kennt ihn nicht und fragt sich, was ein anglikanischer Pfarrer wohl bei ihm möchte.
Mann mit Verbindungen
Was Hechler erzählt, kommt dem jüdischen Journalisten außergewöhnlich, ja naiv vor. Er schwärmt von Herzls Buch, erklärt, dass er lange auf so jemanden gewartet habe und bietet Herzl seine Dienste an. Der Inhalt des Buches sei klar und praktisch und entspreche an vielen Stellen den Aussagen des Alten Testaments. Herzl wundert sich darüber und erklärt seinem Besucher, dass er sich bei den Propheten im Tanach nicht auskenne.
William Hechler war als Sohn von Missionaren der Basler Mission 1845 im indischen Benares geboren worden. Sein Vater Dietrich, gebürtiger Südbadener, stammte aus Vögisheim im Markgräfler Land. Früh verloren William und seine beiden Schwestern ihre Mutter, die Engländerin war. Deshalb wuchs er ab dem sechsten Lebensjahr in verschiedenen englischen und deutschen Kinderheimen und Internaten in London und Basel auf. Später verhalf ihm eine Tante, die am englischen Königshof angestellt war, zu einer Stelle als Hauslehrer am Hof des Großherzogs von Baden, Friedrichs II. Hier lernte Hechler den Adel Europas kennen, darunter den späteren Kaiser Wilhelm. Auch zur russischen Zarenfamilie gab es Beziehungen.
Friedrich II. war Hechler wohlgesonnen. So konnte dieser bei vielen Gelegenheiten seine Gedanken über die Zukunft der Gemeinde und Israels weitergeben. Auf Reisen in Osteuropa bis nach Odessa, wo die zweitgrößte jüdische Gemeinde des Zarenreichs beheimatet war, wurde er Zeuge der schweren Pogrome unter den dort ansässigen Juden.
Hechler kam aus der Erweckungsbewegung, die stark vom Gedanken an die Wiederkunft Jesu und die Wiederherstellung Israels bewegt war. Durch eigene Bibelstudien kam er zu der Überzeugung, die alttestamentlichen Propheten, vor allem Daniel, legten den Schluss nahe, die Wiederherstellung Israels werde im Jahre 1897 beginnen. Ihn kümmerte wenig, dass derartige endzeitlichen Berechnungen wiederholt schief gegangen waren.
Klares Vorhaben
Bei der Wiederherstellung Israels ging es Hechler um ein Dreifaches: Der Staat Israel müsse wieder Gestalt annehmen, entsprechend der Frage der Jünger Jesu: „Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel?“ (Apostelgeschichte 1,6). Der Meister verneinte diese Frage seiner Anhänger nicht, sondern bestätigte sie vielmehr, indem er betonte, nur der Allmächtige wisse dafür Zeit und Stunde. Hechler konnte sich diesen Staat nur im Land Israel, an biblischer Stätte vorstellen – nicht in Argentinien, Afrika oder den USA, wie andere ernsthaft erwogen.
Zweitens wollte Hechler, dass Israel seinem Gott begegnen möge und neu erweckt würde, diesem von ganzem Herzen zu dienen, wie es die Propheten im Alten Testament angekündigt hatten.
Und drittens hatten er, wie viele Gläubige aus Erweckungsbewegung und Pietismus, die Gewissheit der Wiederkunft des Messias in Macht und Herrlichkeit – entsprechend der Voraussage des Propheten Sacharja 14,4 auf dem Ölberg in Jerusalem, um als „Maschiach Ben David“ (Messias, Sohn Davids) seine Weltherrschaft zu proklamieren.
Politische Winkelzüge
Der Erkenntnis musste praktisches Handeln folgen, sonst wäre Hechler nicht Hechler gewesen. Er hatte erkannt, dass für Juden die endzeitliche Wiederherstellung entsprechend christlichen Vorstellungen weniger wichtig war als ein Zufluchtsort vor Verfolgung. So reiste er nach Konstantinopel, um dem Sultan einen Brief der englischen Königin Viktoria zu überbringen. Darin bat die Monarchin, russischen Juden durch eine Übersiedlung nach Palästina Schutz vor den Pogromen zu bieten. Bitter musste Hechler erfahren, welche Winkelzüge Teil der Politik sind. Die englische Botschaft lehnte es schlichtweg ab, den Brief an den Sultan weiterzuleiten – trotz der hochgestellten Absenderin.
Theodor Herzl wurde am 2. Mai 1860 in Pest, dem heutigen Budapest, geboren. Er starb am 3. Juli 1904 in Edlach, Niederösterreich. Der österreichische Schriftsteller, Publizist, Journalist und zionistische Politiker trug die hebräischen Vornamen Benjamin Se‘ev. Eigentlich hatte er die Assimilation der Juden in Europa befürwortet. Doch durch den Dreyfus-Prozess in Frankreich wurde Herzl klar, dass nur eins dem jüdischen Volk eine sichere Zukunft garantieren könne: ein eigener Staat. Die Folge dieser Überlegungen war 1896 die Veröffentlichung seines Buchs „Der Judenstaat“. Sechs Jahre später schrieb Herzl den utopischen Roman „Altneuland“, in dem er seine Vorstellungen einer jüdischen Gesellschaftsordnung in Palästina präsentierte, das damals zum osmanischen Reich gehörte.
Die Visionen
Mit der Hilfe Hechlers erreichte das Anliegen Herzls fast alle wichtigen Schaltstellen der Macht in Europa. Der erste zionistische Kongress 1897 in Basel, wo Hechler als Basler Missionarskind gewissermaßen „Heimrecht“ genoss, war eine logische Konsequenz. „Sieht man Bilder vom ersten Kongress und liest Augenzeugenberichte, so fällt es schwer zu glauben, dass Herzl zu diesem Zeitpunkt erst 37 Jahre alt war“, schreibt Michael Brenner in seiner „Geschichte des Zionismus“ (München 2008, Seite 43): „Mit seinem langen schwarzen Bart wirkte er wie einer jener altassyrischen Könige, die uns auf Bildnissen überliefert sind, und seine Reden erinnerten die mit der Bibel vertrauten Teilnehmer an prophetische Klänge.“
Das Basler Programm erklärte: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich an anderen Orten nicht assimilieren können oder wollen.“ Zur Umsetzung dieses Vorhabens wurde die „Zionistische Weltorganisation – World Zionist Organization (WZO)“ gegründet und der Initiator des Kongresses, Theodor Herzl, zu deren erstem Präsidenten gewählt.
Fortdauerndes Engagement
Herzl schreibt am 3. September 1897 die mittlerweile berühmt gewordenen und oft zitierten Sätze in sein Tagebuch: „Fasse ich den Baseler Kongress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen.“ Genau fünfzig Jahre und achteinhalb Monate danach wurde am 14. Mai 1948 der Staat Israel ausgerufen.
Hechler war danach weiterhin unermüdlich im Einsatz dafür, Herzl Eingang bei einigen der wichtigsten Persönlichkeiten Europas zu verschaffen, in Fürstenhäuser bis hin zum deutschen Kaiser. Doch dem jüdischen Visionär Herzl und dem christlichen Zionisten Hechler wurde es nicht leicht gemacht, ein entspanntes Verhältnis aufzubauen. Wenngleich einige Christen die geistliche Verwandtschaft gespürt haben mögen, sahen sie sich doch genötigt, die eigene traditionelle Position gegenüber dem Judentum zu verteidigen. Aus jüdischer Sicht war angesichts von Jahrhunderten christlicher Judenverfolgungen, theologischer Disqualifizierung, Zwangstaufen und millionenfachem Mord eine Kooperation mit Christen nur schwer vorstellbar. Und das alles vor dem dunkelsten Kapitel christlich-jüdischer Beziehungen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts.
Wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1931 eröffnet Hechler dem Schwiegersohn des Zionistenführers Nahum Sokolov: „Ein Teil des europäischen Judentums wird geopfert werden müssen für die Auferstehung Ihrer Heimat …“ Anfang der 1930er Jahre waren die Worte des deutsch-englischen Geistlichen kaum begreifbar, wenngleich die finsteren Gewitterwolken der braunen Ideologie bereits am Horizont erkennbar waren. Aus heutiger Perspektive haben seine Worte eine schreckliche prophetische Bedeutung: Aus der Asche der Gasöfen von Auschwitz und Treblinka entstand der jüdische Staat Israel.
Von: Arthur Klenk/Karl-Heinz Geppert