Als die Sonne am 14. November 2012 im Mittelmeer versank, waren noch immer schwere Explosionen zu hören. Rauchsäulen standen über Gaza-Stadt. Erste Berichte sprachen von sechs Toten und zehn, vielleicht fünfzehn Verletzten. Der israelische Angriff, kurz nach Bekanntwerden schon als „Operation Wolkensäule“ bezeichnet, folgte tagelangem Raketenbeschuss auf die an den Gazastreifen grenzenden Ortschaften im Süden Israels. Die Explosion eines Tunnels, der von Gaza aus tief unter israelisches Territorium gegraben worden war, und schließlich ein Raketenangriff auf einen israelischen Armeejeep, bei dem vier Soldaten teilweise schwer verletzt wurden, der von der Hamas gefilmt und dann auch noch über das Internet verbreitet worden war, hatten das Fass zum Überlaufen gebracht.
In einer ungewöhnlichen Ruhe vor dem Sturm beteuerten Israels Politiker und Militärs, man werde zu einem für die Palästinenser im Gazastreifen schmerzhaften Schlag ausholen – dafür allerdings selbst den Zeitpunkt bestimmen. „Wer meint, er könne das Leben der Einwohner Israels auf diese Weise einschränken“, drohte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, „ohne dafür einen schweren Schlag einstecken zu müssen, täuscht sich.“ Dann lud er alle in Israel akkreditierten Botschafter in die südisraelische Stadt Aschkelon ein und erklärte, aus Sicht Israels sei ein weiterer Raketenbeschuss inakzeptabel – nur, um sich tags darauf mit Verteidigungsminister Ehud Barak an der ebenfalls angespannten Nordgrenze auf den Golanhöhen sehen und hören zu lassen. Das Täuschungsmanöver gelang. Die Hamas war offensichtlich davon ausgegangen, Israel werde sich wieder einmal mit einer Waffenstillstandserklärung zufrieden geben – und wurde völlig überrascht.
Vier Stunden nach der gezielten Liquidierung Dscha’abaris wurde bekannt, die Marine beschieße Gaza vom Meer aus. Eine halbe Stunde später verkündete Verteidigungsminister Ehud Barak, die meisten Fadschr-Raketen mit einer Reichweite von mehr als 70 Kilometern seien zerstört. Doch, warnte der oberste zivile Chef der Armee Israels: „Dies ist erst der Anfang, nicht das Ende!“
Unabsehbare Folgen
Die Folgen des jüngsten Feldzugs der israelischen Armee gegen die radikal-islamische Hamas im Gazastreifen sind noch lange nicht absehbar. Unmittelbar nach Bekanntwerden der „Operation Wolkensäule“ wurden die Einwohner im Süden Israels angewiesen, nach Hause zu gehen und sich in Bunkernähe aufzuhalten. Schulen und Colleges im Umkreis von 40 Kilometern des Gazastreifens wurden für den heutigen Donnerstag geschlossen. Im Radius von sieben Kilometern sollte auch niemand zur Arbeit gehen. So verbrachte ganz Südisrael die Nacht nach dem Angriff auf Hamas-Führer Achmed Dscha’abari im Bunker.
Nichtsdestotrotz begrüßten die Bürger der vielgeplagten Negevstadt Sderot den Militäreinsatz. „Die Zeit ist gekommen, dem ständigen Raketenbeschuss ein Ende zu bereiten!“, verkündigten einige, und: „Wir sind bereit, Tage und Wochen im Bunker zu sitzen, wenn die Armee dieses Problem der Raketen jetzt endlich löst!“ Der ehemalige Bürgermeister der Stadt, Eli Mojal, meint: „Endlich, nach zwölf Jahren Leiden, tut jemand etwas. Wir werden stark sein. Es wird nicht einfach werden. Aber das Wichtigste ist, dass Regierung und Armee dieses Problem endlich anpacken – eigentlich ist das schon elf Jahre überfällig!“
Nicht nur die Raketenabwehrbatterien der „Eisernen Kuppel“, sondern die ganze israelische Armee wurde in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Truppen werden um den Gazastreifen zusammengezogen, Reservisten werden eingezogen, die Armee bereitet sich auf den Einmarsch in den Gazastreifen vor – auch wenn diese Option keinem der Beteiligten in irgendeiner Weise verlockend erscheint. Zu groß ist die Furcht, im „Sumpf von Gaza“ stecken zu bleiben.
Allerdings ist man sich in Israel sehr wohl im Klaren darüber, dass es relativ einfach ist, einen Krieg zu beginnen – aber niemand weiß, wie man ihn letztendlich beenden soll. Deshalb will man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Nach den Erfahrungen des Zweiten Libanonkriegs im Sommer 2006 und der Operation „Gegossenes Blei“ zum Jahreswechsel 2008/2009 sucht Israel die alte Taktik eines sehr heftigen, aber kurzen Militärschlags neu aufleben zu lassen, um den Krieg so möglichst schnell zu einer Entscheidung zu führen.
Die Hamas ließ, offensichtlich noch im Schock über die furchtbar harten und gezielten Angriffe der israelischen Armee, verlauten: Die gezielte Tötung Dscha’abaris bedeute Krieg. Die Issadin Al-Kassam-Brigaden, der militärische Flügel der Hamas, schäumten, jetzt sei „keine israelische Siedlung mehr sicher“. Andere Stimmen aus dem Gazastreifen drohten: „Wir werden die Städte Israels verbrennen!“ Etwas besonnener meldete sich fünf Stunden nach Beginn der Angriffe das führende Hamas-Mitglied Musa Abu Marsuk im Ausland zu Wort: „Wir haben uns an die Ägypter gewandt und darum gebeten, der Aggression Einhalt zu gebieten.“ Diese Aussage macht deutlich, dass man sich auch in Kreisen der Hamas nicht so sicher zu sein scheint, wie weit man dem israelischen Ansturm gewachsen ist.
Ägypten zieht Botschafter ab
Ägyptens Außenminister Kamal Amr verurteilte Israels Vorgehen gegen Gaza. Wenig später wurde bekannt gegeben, Ägypten ziehe seinen Botschafter, Atef Mohamed Salem, aus Tel Aviv zur Beratung ab. Während bei Israels letztem Gazafeldzug zum Jahresende 2008 der damalige ägyptische Präsident Hosni Mubarak die Palästinenser noch wissen ließ, sie seien letztendlich selbst schuld an ihrem Leiden, herrscht jetzt in Ägypten eine vollkommen andere Situation. Die Muslimbruderschaft sieht sich der Hamas ideologisch und religiös verbunden. Und es bleibt abzuwarten, wie sich der neue Präsident Mohammed Mursi angesichts des Drucks der Straße in seinem Land, diplomatischen Verpflichtungen, etwa gegenüber den USA, und auch angesichts seiner eigenen Einstellung zur palästinensischen Hamas in dieser neuen Eskalation verhalten wird.
Ein erstes Fazit dürfte sein, dass die Auslands-Hamas unter Führung von Chaled Masch’al und Musa Abu Marsuk gegenüber der Hamasführung in Gaza von den jüngsten Entwicklungen profitieren dürfte. Sie hat seit Langem behauptet, man könne die Hamas nicht von Gaza aus führen, weil das zu nahe am Einflussbereich der Israelis liege. Die gezielte Tötung Achmed Dscha’abaris ist der schlagende Beweis dafür, dass die Auslandsführung Recht hat.
Ziele der „Operation Wolkensäule“
„Wenn unsere Kinder nicht ruhig schlafen können“, erklärt der israelische Innenminister Eli Jischai, „müssen die dort verstehen, dass auch sie nicht ruhig schlafen werden“. Der Likud-Parlamentarier Dan Danon ist derselben Meinung: „Ohne Ruhe in Südisrael darf es auch keine Ruhe in Gaza geben!“ Dieser Ansicht ist der überwältigende Großteil der israelischen Bevölkerung, so dass sich auch Politiker, die eigentlich im Blick auf den angelaufenen Wahlkampf gerne ganz andere Töne von sich geben und sich vielmehr als Opposition und Alternative positionieren würden, dem zustimmen müssen: Oberstes Ziel der „Operation Wolkensäule“ ist, dem Süden Israels Ruhe zu bringen.
Bemerkenswert ist – gerade auch angesichts des Wahlkampfs – wie sehr führende Politiker, die oft selbst „gelernte“ Militärs sind, dabei Worte wie „größtmögliche“ Ruhe und Sicherheit betonen. Jeder, der die Situation in und um Israel kennt, weiß, dass absolute Ruhe und Sicherheit ein Luxus ist, den der jüdische Staat im Laufe seiner immerhin ein halbes Jahrhundert alten Existenz noch nie genießen durfte.
Deshalb formuliert Israels Verteidigungsminister Barak auch „die Abschreckungskraft der Armee wieder herzustellen“ als erstes Ziel. Mit der Hamas, die ein Existenzrecht Israels grundsätzlich und religiös begründet ablehnt, ist nicht zu reden. Aber, die Spielregeln im gegenseitigen Verhältnis, zu dem die Geschichte die beiden Erzfeinde verurteilt hat, müssen neu festgelegt werden. Dabei haben Israels Politiker vielleicht auch eine Botschaft an die Mutterorganisation der Hamas, die Muslimbruderschaft in Ägypten, im Hinterkopf. „Wir erfahren hier einen neuen Nahen Osten“, erkennt die israelische Top-Journalistin Adschalah Chason-Nescher, „aber nicht so, wie ihn [Staatspräsident Schimon] Peres sich gedacht hat“, der den Ausdruck vom „neuen Nahen Osten“ in den Hoffnungszeiten der Abkommen von Oslo geprägt hatte.
Ein weiteres Kriegsziel Israels ist, die Fähigkeiten der Terror-Organisationen im Gazastreifen, Raketen auf Israel zu schießen, bedeutend einzuschränken. Fast zeitgleich mit dem Angriff auf Dscha’abari wurden deshalb mindestens zwanzig Waffenlager im ganzen Gazastreifen bombardiert. Seit Jahren hatten sich die israelischen Geheimdienstler Datenbanken angelegt, mit einem besonderen Augenmerk auf die Fadschr–5-Raketen, die in den vergangenen Monaten vor allem aus Libyen in den Gazastreifen gelangt waren und eine Reichweite von mehr als 70 Kilometern haben.
Kein Interesse am Sturz der Hamas
Israel hat kein Interesse, das Hamas-Regime in Gaza zu stürzen, weil die gemeinhin als gemäßigter geltende Fatah und ihre Autonomiebehörde derzeit keine Alternative zu bieten haben. Als eine der letzten Vertreterinnen der alten Riege arabischer Diktaturen, die der arabische Frühling von der politischen Bühne wischt, steht sie mit dem Rücken zur Wand. Als Alternative zur Hamas sieht man in Israel deshalb nur ein Chaos aus Dschihadisten, Salafiten und allen möglichen anderen Terroristen, die ein Machtvakuum im Gazastreifen zu füllen vermöchten. Deshalb ist eindeutig nicht die Zerstörung der Hamas-Terrorstrukturen Ziel des israelischen Militäreinsatzes, sondern lediglich deren Einschränkung. Allerdings hatte Finanzminister Juval Steinitz am Vormittag vor Beginn der „Operation Wolkensäule“ im israelischen Rundfunk noch erklärt, man könne sich im Gazastreifen eine islamistische Armee, die das Ziel hat, Israel zu zerstören, auf Dauer nicht leisten.