Israel wurde als Heimstätte für Juden gegründet, als Schutzraum vor Anfeindungen und Antisemitismus. Doch nicht allen Flüchtlingen half der Staat dabei, in der neuen Heimat Fuß zu fassen – zum Teil, weil er mit dieser Aufgabe überfordert war. Eine auf diese Weise ausgegrenzte Gruppe sind die „Teheran-Kinder“. Ihre Geschichte ist ein selten erwähnter Aspekt der Judenverfolgung kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs.
Ihren Anfang nahm diese Geschichte im „Dritten Reich“ mit der „Polenaktion“: Ende Oktober 1938 schoben die Nazis in einer Nacht-und-Nebel-Aktion etwa 17.000 Juden, die polnische Staatsbürger waren, aus dem Deutschen Reich nach Polen ab. Mit dieser Aktion reagierten die Nazis auf die verschärften Einreisebedingungen, die Polen 1938 erlassen hatte, um seinerseits einer Massenausweisung polnischer Juden aus dem „Dritten Reich“ zuvorzukommen.
Diejenigen, die in Polen keine Angehörigen oder eine Unterkunft hatten, wurden im polnischen Zbaszyn (Bentschen), etwa 100 Kilometer östlich der Oder, interniert. Doch auch die in Polen bereits lebenden Juden mussten nach dem Angriff der Nazis auf Polen am 1. September 1939 die Flucht ergreifen. So auch die Familie von Zeev Schuss, eines der „Teheran-Kinder“ und heute Mathematikprofessor in Tel Aviv. Seine Familie lebte in Krakau, von wo sie 1939 vor den Nazis nach Lemberg floh, das damals die Sowjets nach ihrem Polenfeldzug eingenommen hatten. Von dort wurden viele Polen und Juden mitsamt ihrer Kinder von den Sowjets in Arbeitslager nach Sibirien verschleppt.
Schuss‘ Familie entging diesem Schicksal. Doch als die Nazis am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriffen, musste sie weiter fliehen. Die Sowjets evakuierten Lemberg und verfrachteten Schuss‘ Familie zusammen mit vielen anderen ins usbekische Buchara. Auch diejenigen, die in die sibirischen Arbeitslager deportiert worden waren, kamen nun massenhaft in die asiatischen Territorien. Denn nach dem Angriff der Nazis hatten sich die Sowjets mit Polen verbündet und den Gefangenen Amnestie erteilt. Doch die Lebensbedingungen in den dortigen Flüchtlingslagern waren widrig: „Die Flüchtlinge litten an Hunger und Krankheiten. Täglich starben Kinder, ihre abgezehrten Körper blieben auf der Straße liegen und niemand kümmerte sich darum“, erinnert sich Schuss.
Unter den polnischen Befreiten befand sich auch General Wladislaw Anders, der mit Erlaubnis der Sowjetunion eine polnische Exilarmee gründete. Etwa 33.000 Mann traten ihr bei. Den Männern folgten auch viele polnische und jüdische Kinder, die in den Arbeitslagern ihre Eltern verloren hatten. Sie lebten in der Nähe des Armeelagers, um sich von den Essensresten der Soldaten ernähren zu können. Auf Initiative der Soldaten wurden schließlich für polnische Kinder Versorgungslager und Waisenhäuser eingerichtet. Doch für jüdische Kinder war es „fast unmöglich“, in ein Waisenhaus zu kommen, sagt Schuss. Viele hängten sich ein Kreuz um den Hals und lernten den Katechismus der katholischen Kirche, um als „normale“ Polen durchzugehen. Auch Schuss‘ Eltern brachten ihn und seine vier Jahre ältere Schwester in das einzige Waisenhaus für Juden im usbekischen Samarkand. Sie merkten, dass sie nicht mehr in der Lage waren, sich um ihre Kinder zu kümmern.
Das Ziel der Anders-Armee war Ägypten, wo sie sich der britischen Armee anschließen sollte. Die Sowjetunion erlaubte, dass eine begrenzte Zahl von etwa 11.000 Zivilisten, meist Angehörige der Soldaten und (Waisen-)Kinder, mit der Armee mitzog, um den widrigen Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern zu entkommen. Schuss‘ Eltern sahen darin, wie viele andere auch, eine einmalige Gelegenheit, ihre Kinder nach Palästina zu bringen, wo sich Verwandte um diese kümmern könnten. Und so schlossen sich Schuss, damals fast fünf Jahre alt, und seine fast zehnjährige Schwester zusammen mit 3.000 weiteren polnischen und jüdischen Kindern, dem Zug der Armee an.
Schlimme hygienische Bedingungen
Von Samarkand ging es zum Kaspischen Meer und dann per Schiff unter schlimmen hygienischen Bedingungen in die iranische Hafenstadt Bandar Pahlawi (heute: Bandar Anzali). Doch in den dortigen Flüchtlingszelten waren die Umstände nicht viel besser als auf der Reise, es fehlte etwa an Medizin und Proviant. Nach einigen Tagen Aufenthalt fuhren die Kinder mit der Armee nach Teheran, wo die Soldaten eine militärische Ausbildung erhalten sollten. Die Jungen und Mädchen kamen in ein Zeltlager. Auch dort gehörten Hunger, Krankheiten und Tod zum Alltag, berichtet Schuss. Hinzu kamen die antisemitischen Anfeindungen der polnischen Kinder.
Für die jüdischen Kinder änderte sich das Schicksal erst, als die Gesandtschaft der „Jewish Agency“ in Teheran davon erfuhr, dass sich unter den polnischen Flüchtlingen auch viele Juden befanden. Sie setzte sich zunächst für die Verbesserung der Lebensbedingungen ein und organisierte schließlich im Januar 1943 die Ausreise nach Palästina. Da der Irak die Durchreise verwehrte, ging es zunächst südlich zum Persischen Golf und dann per Schiff nach Karachi im heutigen Pakistan. Nach kurzem Aufenthalt schifften sie von dort aus nach Suez in Ägypten, und mit dem Zug kamen sie schließlich am 18. Februar 1943 in Atlit bei Haifa an.
In Palästina wurden die Kinder medizinisch versorgt. Diejenigen, die Verwandte in den jüdischen Siedlungen hatten, kamen dort unter. Die anderen lebten in Waisenhäusern und erhielten dort Unterricht – immerhin hatten sie eine Bildungslücke von vier Jahren aufzuholen. Im Unabhängigkeitskrieg 1948/49 kämpften viele von ihnen in der Armee mit, 35 fielen im Kampf.
Nach dem Krieg stand der Staat Israel kurz vor dem Ruin: der Krieg war teuer, die Wirtschaft lag brach, und hunderttausende jüdischer Flüchtlinge aus Europa und den arabischen Ländern mussten versorgt werden. Erleichterung versprach das „Luxemburger Abkommen“ vom September 1952: Demnach zahlte Deutschland an Israel Reparationen, um für die Kosten der Eingliederung von Juden, die vor den Nazis geflohen sind, aufzukommen. Insgesamt sollte Deutschland über einen Zeitraum von 14 Jahren 3,5 Milliarden Deutsche Mark an Reparationen leisten. Laut dem Abkommen waren die Zahlungen als individuelle Hilfeleistungen gedacht. Doch wegen der wirtschaftlichen Krise verwendete die Regierung unter David Ben-Gurion das Geld für die Ankurbelung der Wirtschaft. Die Flüchtlinge selbst, darunter die „Teheran-Kinder“, erhielten keine direkten Hilfeleistungen.
Im Jahr 1957 verabschiedete Israel ein Gesetz, nach dem Überlebende des Holocausts, die durch die Verfolgung der Nazis physische und psychische Schäden erlitten hatten, Pensionen bekommen, die aus den Reparationen Deutschlands finanziert wurden. Doch die „Teheran-Kinder“ galten damals nicht als Holocaust-Überlebende und erhielten diese Zahlungen daher nicht. Erst im Jahr 1997 wurden sie offiziell als Holocaust-Flüchtlinge anerkannt.
Ein weiterer Schritt der Anerkennung der „Teheran-Kinder“ erfolgte im August dieses Jahres durch ein Gerichtsurteil, das Beobachter als „moralisch und rechtlich historisch“ ansehen. Ein Tel Aviver Gericht entschied, dass den „Teheran-Kindern“ damals die Reparationen Deutschlands zugestanden hätten. Schon im Jahr 2004 hatten einige von ihnen Klage erhoben. Nach dem nun gefällten Urteil bekommen sie je eine Nachzahlung von umgerechnet etwa 15.430 Euro.
Ambivalenter Nachgeschmack
Für Schuss hat das Urteil und diese symbolisch zu verstehende Zahlung einen ambivalenten Nachgeschmack. Einerseits würden damit die Fehler, die der Staat gemacht habe, anerkannt. Das Urteil sei eine „moralische Rehabilitation“ der „Teheran-Kinder“. Er gesteht auch zu, dass es nicht eher zu dem Richterspruch habe kommen können, da viele relevante Dokumente lange nicht zugänglich gewesen seien.
Andererseits sieht er die „Teheran-Kinder“ nicht als Gewinner. Ihnen stünde eigentlich mehr zu, etwa die jahrzehntelang nicht gezahlten Pensionen für Holocaust-Überlebende. „Aber das ist sinnlos“, winkt Schuss ab. „Wir sind zu alt, um den Rest unseres Lebens damit zu verbringen, gegen Windmühlen zu kämpfen. Letztendlich hat der Staat gewonnen, indem er die ihm Anvertrauten um ihre Rechte gebracht hat und mit der Zahlung von Peanuts aus der Sache herausgekommen ist.“