„Bei uns kann jeder mitmachen, egal, welcher Religion sie oder er angehört“, sagt Veronika Smalko vom Chemnitzer Ukraine-Verein. Seit 2014 nennt er sich „Arbeitsgemeinschaft Ukraine-Chemnitz-Europa e.V.“, mit dem Ziel humanitärer Hilfe für verarmte Menschen in der Ukraine. Also eigentlich ein Grundmotiv des Christentums, auch wenn das nicht so offen kommuniziert werde, merkt Smalko an, die selbst jüdische Wurzeln hat. Und doch sei auch immer wieder mal Politik im Spiel, fügt die 37-jährige hinzu. Denn im Moment sprächen ja alle „von diesem Konflikt“, so dass das Thema die Öffentlichkeit auf Schritt und Tritt begleite.
Smalko lebt in Chemnitz, arbeitet als Modeberaterin und ist vor wenigen Jahren mit ihrem Mann nach Deutschland emigriert. Sie zeigt den großen Lagerraum im Chemnitzer Gewerbegebiet, dessen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert noch immer den Charme der früheren DDR versprühen. Bis zur Decke stapeln sich die Kartons, gefüllt mit allem, was Menschen so brauchen.
Vieles kommt auch aus Israel, wo heute viele einst aus der früheren Sowjetunion emigrierte Juden leben. Dort haben sie Karriere gemacht, im Militär und in der boomenden IT-Industrie. Essgeschirr, Kleidung, Spielzeug und Hygieneartikel füllen die Kisten im Chemnitzer Gewerbegebiet. Geliefert werden sie an Familien, Seniorenheime und Schulen in sozialen Brennpunkten. In den Kartons befinden sich auch Medikamente und medizinisches Gerät für eine Kinderkrebsstation in der Nähe von Charkow. Die ostukrainische Stadt war im Zweiten Weltkrieg stark umkämpft. Sie wechselte mehrfach zwischen Deutschen und Russen den Besitzer und wurde nach dem Krieg auf blutgetränkter Erde wiedererrichtet.
Adoptierte Kinder
Veronika Smalko führt ein Video vor, in dem eine junge Frau müde in die Kamera lächelt. Sie ist 21, hatte mit 13 einen bösartigen Tumor, der geheilt wurde, bis vor wenigen Jahren, kurz nach ihrer Schwangerschaft, der Krebs wieder ausbrach. Ob die Erkrankung eine Spätfolge der Reaktorkatastrophe von 1986 im nahen Tschernobyl ist? Niemand weiß es, und doch munkeln viele, dass da ein Zusammenhang bestehen könnte, denn die junge Frau in dem Video ist beileibe nicht die einzige Patientin ihrer Altersgruppe.
Auf dem Video bekommt sie gerade ein Paket aus Deutschland überreicht, dessen Inhalt, vor allem Süßigkeiten, sie bislang nur aus der Fernsehwerbung kannte. Entsprechend groß ist die Überraschung der jungen Mutter, die nun wieder bei der Oma lebt, wie so viele junge Leute in den Staaten der früheren UdSSR, deren Eltern sich angesichts sozialer Not getrennt und die Kinder ihrem Schicksal überlassen haben. Das erklärt auch, warum ausgerechnet in der Ukraine so viele kinderlose Paare aus dem Westen nach einem Adoptivkind Ausschau halten.
Geklaute Autos und Häuser ohne WC
„Früher hatten wir eigene Fahrer, heute nicht mehr“, sagt Veronika Smalko. Denn es sei nicht ungefährlich, in den oft abgelegenen Gegenden die jeweiligen Adressaten zu finden. Oft lebten die Familien in einfachen Holzbehausungen, an unasphaltierten Wegen oder manchmal auch auf offenem Feld, ohne Strom- und Wasseranschluss.
Das glaube man im Westen erst, wenn man es mit eigenen Augen gesehen hat, hat der Zwickauer Ökonom Roy Müller vom Online-Magazin „Justament.de“ festgestellt. Er spricht fließend Russisch und hat die Ukraine wiederholt bereist. Hinzu kommen kaputte Straßen, extreme Wetterlagen und manchmal auch kriminelle Handlanger, die es in der Vergangenheit immer wieder auf Hilfstransporte aus dem Westen abgesehen hatten.
Heute werden die Pakete des Chemnitzer Ukraine-Vereins mit kommerziellen Transportdienstleistern verschickt und seien „meist nach zwei bis drei Tagen am Zielort“, ergänzt Smalko. Die Kosten hielten sich in Grenzen, heißt es. „Wir garantieren, dass jeder gespendete Kinderpullover und jede Wärmdecke ihr Ziel erreichen“, betont die Vereinsvertreterin, auch im Hinblick auf die in ihrer Heimat grassierende Selbstbedienungsmentalität. In deren Folge würden immer wieder Sachspenden abgezweigt und dann im Internet oder auf freien Märkten verschachert, „oft neben gestohlenen Autos, wertvollen Münzen und geraubtem Elektronikequipment aus dem Schengenraum“, sagt eine Sprecherin des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden gegenüber Israelnetz.
Grüner Tee und eine große Landkarte
Die Lagerstätte des Vereins im Chemnitzer Gewerbegebiet ist indes nicht nur ein Aufbewahrungsort für gespendete Haushaltswaren und Heilmittel. Sie ist – im weiteren Sinne – auch eine Begegnungsstätte für Menschen, die sich für alles Ukrainische interessieren und dabei ein Stück weit in die „Seele“ des großen Landes mit seiner mehr als tausendjährigen Geschichte eindringen möchten. Zu trinken gibt es an diesem Abend landestypisch Tee, wahlweise in den Geschmacksrichtungen Apfel, Vanille oder Zimt – so wie in vielen Ländern der früheren Sowjetunion, wo der Samowar das Wohnzimmer ziert wie andernorts die Kaffeemaschine. Doch mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass das duftende Heißgetränk heuer in Tassen mit den blau-gelben Nationalfarben der Ukraine fließt.
Dazu passend prangt im Besprechungsraum eine große Landkarte des seit 1991 unabhängigen Landes; neben Fotocollagen, Plakaten und Kinderzeichnungen, auf denen Alltägliches, aber auch der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben in dem Vielvölkerstaat gezeigt wird. Dass Kinder, ob ukrainisch, deutsch oder russisch, einen oft unverblümten, authentischen Blick auf die Wirklichkeit haben, zeigen die Zeichnungen in den Vereinsräumen mit frappierender Ehrlichkeit. „Man beachte, dass sich die Konfliktparteien, Russland und die Ukraine, kulturell sehr ähnlich sind“, hebt Experte Roy Müller hervor. Es gebe zudem enge Familienbande, die auch in diesen Zeiten intensiv gepflegt würden.
Was in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist: Die Geschichte der Ukraine reicht zurück bis ins 9. Jahrhundert. Sie war geprägt von Hunger, Ausbeutung und Unterdrückung, aber auch von Handel, Austausch und Judentum, das in seiner heutigen Form im frühen Mittelalter entstanden ist. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus erlebe es ein Revival, das bis heute anhält, teilt der Slawist Florian Hundhammer von der FU Berlin mit. Und in der Tat, aller Unterdrückung durch den Kommunismus zum Trotz: Verbindendes Element in den Staaten der früheren Sowjetunion ist bis heute das Mystische, will sagen: der Glaube an eine überirdische Herkunft und ein Leben nach dem Tod. Das zeigt, dass auch in der geschundenen Ukraine die Sehnsucht nach Friede, Würde und Wohlstand für alle ungebrochen ist.
Dr. Benedikt Vallendar arbeitet als freier Publizist und ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main. 2004 promovierte er an der FU Berlin im Fach Neuere Geschichte.
2 Antworten
Ja, und nicht vergessen, dass uns die Ukrainer kulturell sehr nahe stehen, im Gegensatz zu dem, was 2015 aus dem Orient nach Europa, Deutschland etc kam … und seither mehr oder weniger geduldet wird …
Ekelhafter Rassismus ist es, die Kriegsflüchtlinge in gute und schlechte einzuteilen: „Die Ukrainer“ und das, „was 2015 aus dem Orient… kam“. „Was“ sind Menschen, die vor Krieg und Terror geflohen sind. Putin hat, bevor er die Ukraine überfallen hat, Syrien in Schutt und Asche gebombt. Wenn Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingen missbraucht wird zur Hetze gegen syrische Flüchtlinge, ist das nichts anderes als Rassismus.