Im Jahre 1918, dem Gründungsjahr der unabhängigen Tschechoslowakischen Republik, gab es auf dem künftigen Mandatsgebiet Palästina schon 29 Gemeinschaften, deren Mitglieder alles Eigentum teilten. Die aus der Tschechoslowakei stammenden Juden bezeichnen sich selbst mit einem Lächeln als „Tschechoslowaken“ – also weder als „Tschechen“ noch als „Slowaken“. Sie haben bei der Besiedlung Palästinas eine wichtige Rolle gespielt, sei es als Mitarbeiter des Jüdischen Nationalfonds, der die Ländereien erwarb, oder des Keren HaJesod, der die Besiedlung finanzierte, oder eben als Pioniere.
Unter den tschechoslowakischen Pionieren gab es zwei wichtige Gruppen: „Bibracha“, die an der Trockenlegung der Sümpfe in Haifa arbeiteten und den Boden für den künftigen Hafen vorbereiteten. Und „Chefziba“, die sich im Jahre 1922 in Beth Alpha am Fuße der Gilboa-Berge niedergelassen hatte. Im Jahre 1927 besuchte der tschechoslowakische Präsident Tomáš Garik Masaryk die Kolonie Beth Alpha. Er interessierte sich besonders für die praktische Umsetzung des Kommunismus, für Erfolge in der Viehzucht und freute sich über das gute Aussehen der Kinder im Kinderhaus. Unter anderem sagte Masaryk: „Hier in Palästina stehen wir überall auf historischem Boden oder auf Boden, auf dem Geschichte gemacht werden wird.“ Wenige Jahre später entdeckten die Siedler von Beth Alpha unweit der Essbaracke Reste einer Synagoge aus byzantinischer Zeit. Ausgrabungen der Hebräischen Universität brachten einen herrlichen Mosaikfußboden zutage. Die Hebräische Universität sandte als Erinnerung an den Präsidenten-Besuch von 1927 Bilder von den Ausgrabungen nach Prag.
Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die Kibbutzim eher familiären Charakter. Mit der dritten Einwanderungswelle nach dem Krieg wuchsen sie dann sehr. Damals entstand die Idee Landwirtschaft und Industrie zu kombinieren. Zur Zeit der Staatsgründung waren mehr als die Hälfte aller jüdischen Dörfer in Israel Kibbutzim, insgesamt 149. In den 50er Jahren entstand innerhalb der Kibbutzbewegung Streit um die marxistische Philosophie. Die zunehmende Feindschaft der Sowjetunion gegenüber Israel und vor allem ihre Unterstützung Ägyptens und Syriens im Sechstagekrieg lösten dieses Problem dann von selbst.
Im Kibbutz lebten Menschen ursprünglich nach dem Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Die Kibbutzmitglieder, „Chaverim“, das heißt „Freunde“ oder „Genossen“, genannt, arbeiteten alle im Rahmen des Kibbutzes, lebten in Häuschen, die dem Kibbutz gehörten, aßen im gemeinsamen Speisesaal und ließen ihre Wäsche in einer gemeinsamen Wäscherei waschen. Außerdem war der Kibbutz für die Gesundheitsversorgung, die Erziehung und Ausbildung der Kinder und kulturelle Programme zuständig. Das Ziel der Kibbutzbewegung war eine möglichst vielseitige Entwicklung der Fähigkeiten ihrer Mitglieder. Geleitet wurde der Kibbutz von einem demokratisch gewählten Ausschuss.
Frauen von Mutterpflichten und Haushalt befreien
Frauen sollten von den Pflichten als Mutter und im Haushalt befreit und voll in den Arbeitsprozess integriert werden. Säuglinge besuchten sie zum Stillen. Ansonsten wohnten die Kinder aber in Kinderheimen und trafen ihre Eltern lediglich beim gemeinsamen Abendessen im Speisesaal oder an Feiertagen. Manche Kibbutzim haben bereits in den 70er Jahren die Pflicht, im Kinderhaus zu schlafen, aufgehoben. Aber im Kibbutz Gawrit, der Heimat von Rivka Vilan, der Direktorin des Tel Aviver Büros der Kibbutzbewegung, haben die Eltern erst im Golfkrieg von 1990 aus Angst ihre Sprösslinge zu sich genommen. Später wurde an die ursprünglich nur 42 Quadrat Meter großen Häuschen ein Zimmer angebaut, so dass die Kinder zu ihren Eltern ziehen konnten.
2007 hat der Film „Kinder der Sonne“ von Ran Tal auf dem Jerusalemer Filmfestival gleich drei Preise gewonnen. Der Dokumentarfilm ist aus vielen Amateuraufnahmen und Interviews zusammengestellt. Heute erwachsene Kibbutz-Kinder erzählen darin zum Beispiel, dass sie ihre Eltern mit dem Vornamen riefen, weil „Mama“ und „Papa“ zu „bürgerlich“ klang. Ebenso riefen die Eltern ihre Kinder mit ihrem Gruppennamen. Ran Tal, der selbst im Kibbutz Bet HaSchita in der Jesreel Ebene geboren und aufgewachsen ist, meint: „Früher wurde ein Kibbutz für das Paradies gehalten. Heute wird er dämonisiert. Aber der Kibbutz war weder Himmel noch Hölle. Vieles wurde verdreht.“
Wirtschaftskrise wegen Inflation
Als die große Inflation herrschte, gerieten die Kibbutzim in eine tiefe Wirtschaftskrise. Die landwirtschaftliche Produktion konnte nicht mehr die Bedürfnisse der Kibbutzim decken, die in Schulden geraten waren. Durch die Modernisierung der Landwirtschaft, der Gemeinschaftsküche und der Wäscherei wurden weniger Arbeiter benötigt, so dass es zu Arbeitslosigkeit kam. Die „Chaverim“ hatten zwar noch ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Nahrung, ansonsten aber leere Taschen. Bis Ende der 90er Jahre verließen deshalb mehr als 50.000 junge Leute die Kibbutzim, das heißt, ein Drittel aller Mitglieder der Kibbutzbewegung. Sie sahen keine Zukunft mehr. Die Folge war eine Überalterung der Kibbutzeinwohner. Selbst staatliche Subventionen konnten den Gemeinschaftssiedlungen nicht mehr aus der Krise helfen.
So blieb den Kibbutzim nichts anderes übrig, als von den ideologischen Höhen des Kommunismus auf den Boden der harten Realität herabzusteigen. „Alte Barrieren und Hürden verschwanden“, stellen die alten Kibbutzmitglieder fest. Um ihre „verlorenen Söhne und Töchter“ zurückzugewinnen, bieten sie heute kostenloses Baugelände an, auf dem Rückkehrer ein Privathaus bauen und außerhalb des Kibbutzes arbeiten können. Die Gehälter gehen nur noch zum kleineren Teil in die gemeinsame Kasse, um die Kosten für Krankenkasse, Renten und Kommunaldienste zu bestreiten. Der größere Teil bleibt bei den Familien. Heute kann sich jeder Israeli einen prosperierenden Kibbutz aussuchen und Mitglied werden ohne jegliche Verpflichtungen aus der Vergangenheit.
Die Kibbutzim bauen heute neue, moderne Wohnviertel, deren Einwohner zu „Nachbarn“ werden. Sie haben Anteil an den oben erwähnten Diensten, sind aber nicht Miteigentümer der Landwirtschaft oder Industrie, wie die regulären Kibbutzmitglieder. Selbst Kibbutz-Kinder gehen heute in regionale Schulen. Lediglich Kinderkrippen und Kindergärten bleiben im Rahmen des Kibbutzes. Die Kinder werden um vier Uhr abgeholt und die Familien leben ein normales Familienleben, da die meisten israelischen Mütter auch zur Arbeit gehen. Ältere Kinder im Kibbutz haben die Pflicht, einige Stunden für das Gemeinwohl zu arbeiten, beispielsweise im Kuhstall oder bei der Pflege der gemeinsamen Fahrzeuge.
Einige Kibbutzim haben sich auf den Tourismus spezialisiert. Sie bieten Ferienhäuser und Hotels. Speisesäle und Schwimmbäder wurden auf hohem Standard modernisiert. Viele haben historisch und biblisch Interessantes zu bieten, sei das etwa der Kibbutz Ginnosar am See Genezareth mit seinem „Jesus-Boot“, oder der Kibbutz Zoba in den Bergen von Jerusalem mit der Höhle Johannes des Täufers und alten jüdischen Gräbern aus der Zeit des zweiten Tempels.
Entscheidende Rolle bei Integration der Einwanderer
Niemand kann bestreiten, dass die Kibbutzim eine entscheidende Rolle bei Besiedlung des Landes und der Integration der Neueinwanderer gespielt haben. Viele wurden in entlegenen Grenzgebieten aufgebaut und tragen zur Verteidigung des Landes bei. In den Kriegen Israels sind viele Kibbutz-Mitglieder gefallen.
Heute gibt es in Israel noch 270 Kibbutzim, die – abgesehen von den dreizehn religiösen Kibbutzim – in der Kibbutzbewegung vereinigt sind. Die Kibbutzbewegung arbeitet mit den religiösen Kibbutzim zusammen und bietet ihnen verschiedene Dienstleistungen, vor allem im Gesundheitswesen und im kulturellen Bereich an. Ihre Vision ist eine fortschrittliche, erfolgreiche Gemeinschaft über mehrere Generationen hinweg.
Mein bequemer Bürostuhl beispielsweise stammt aus dem Kibbutz Zora bei Bet Schemesch. Der fünfzehnjährige Saxophonist und Gymnasiast Maajan, der dort wohnt, aber nach Jerusalem ins Konservatorium fährt, nimmt den langen Weg gerne auf sich, um in die Stille und Natur des Kibbutzes zurückzukehren. „Im Kibbutz herrscht Bewegungsfreiheit nicht nur für Menschen, sondern auch für die Hunde“, erzählt er. Die fünfzehn Kinder aus Zora, mit denen er seit der ersten Klasse zur Schule geht, sind seine besten Freunde. Als sein Vater schwer krank wurde, erhielt er dort sehr gute Pflege. Die beiden erwachsenen Brüder von Maajan haben zwar den Kibbutz verlassen. Später sind sie aber mit ihren Familien wieder zurückgekehrt: „Um ihre Kinder hier großzuziehen.“
Auch der Reiseleiter Danny Walter denkt gerne an die vier Jahre zurück, die er von 1958 bis 1962 im Kibbutz Ginnosar verbracht hat. „Dort habe ich gelernt und gearbeitet“, erinnert er sich. „Das waren die glücklichsten Jahre meines Lebens.“
Kein Kibbutz gleicht dem anderen. Insgesamt ist zu beobachten, dass sich die ursprünglich streng marxistisch-leninistische Lebensform wohl endgültig aus dem Kibbutz verabschiedet hat. Noch ist nicht abzusehen, wie die Reform der Kibbutzbewegung in Israel abgeschlossen wird.