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„Kadima“, der israelische Polit-Tsunami

Die Folgen eines Tsunami lassen sich erst Wochen oder Monate nach dem Seebeben realistisch einschätzen. Dasselbe gilt für das Politbeben, das Israels Premierminister Ariel Scharon in der vorletzten Novemberwoche ausgelöst hat durch seinen Austritt aus dem Likud und die Gründung der neuen Partei „Kadima“.

„Kadima“ heißt „vorwärts“. Ariel Scharon will sich mit seiner neuen Partei auf die israelisch-palästinensische Schiene und den Friedensprozess konzentrieren, ohne Zeit für politische Grabenkämpfe zu verschwenden. Das US-Nachrichtenmagazin TIME stellt fest, dass jetzt selbst Scharon-Berater Reuven Adler nicht die Palästinenser für das Scheitern der Roadmap verantwortlich macht, sondern die politischen Gegner in den eigenen Reihen. Dass Kadima deshalb von ernstzunehmenden politischen Beobachtern als „Einmal-Partei“ oder „Wegwerf-Partei“ bezeichnet wird, tut den hehren Zielen keinen Abbruch.

Trotzdem fragen sich viele Israelis, wohin es „Kadima“ gehen soll. „Niemand weiß mehr, wofür ein Politiker heute noch steht“, stellen israelische Rundfunkjournalisten fest, „für sich selbst, für die Partei, der er einmal angehört hat, für die Partei, die er vertritt, oder für die Partei, die er bald gründen wird?“ Verteidigungsminister Schaul Mofas ist nicht der einzige, der verkündet hatte: „Ein Heim verlässt man nicht!“, um sich tags darauf eine neue politische Heimat bei Kadima zu suchen. Altsozialist Schimon Peres hat denselben Salto etwas weiser vollzogen, indem er seine Vasallen zu Scharon schickte und sich selbst nur aus der Partei zurückzog, der er ein halbes Jahrhundert als Knessetabgeordneter angehört hatte.

„Die Politiker haben uns auf harte Weise beigebracht, Zyniker zu sein“, fasst ein Rundfunkkommentator die Atmosphäre zusammen: „Das Wort eines Politikers ist nichts mehr wert.“ Nahtlos fügt sich da die hübsche Schlagersängerinnenstimme ein: „Ich weiß, dass du weißt, dass ich nichts weiß… und wir wissen: Es gibt Millionen, denen es genauso geht.“ Eigentlich beschreibt sie ihr eigenes Liebesschlamassel. Aber so mancher Politanalytiker scheint sich mit dieser Aussage auf dem Wege zur höchsten Stufe sokratischer Erkenntnis zu wähnen.

Klar ist: Das gesamte politische System steht auf dem Kopf, alle herkömmlichen Kategorien stimmen nicht mehr. Rechts ist nicht mehr rechts, links nicht mehr links. Der neue Vorsitzende der Arbeitspartei, Amir Peretz, hofiert der Börse in Tel Aviv, die durch einen beispiellosen Höhenflug die Kassen des Staates zu füllen verspricht, den Peretz ab April 2006 gerne anführen möchte. Kurz darauf wird der schnauzbärtige Arbeiterpopulist und ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende auf dem Gemüsemarkt von seiner ureigenen Klientel ausgepfiffen.

Auch die politische Rechte weiß nicht so recht, was sie mit sich und ihrer Ideologie anfangen soll. „Da gibt es drei Parteien“, kommentiert ein Sprecher des israelischen Fernsehens, „die sind sich in 95 Prozent der Sachfragen einig. Aber um die verbleibenden fünf Prozent gibt es schwerste Auseinandersetzungen.“ Der national-religiöse Brigadegeneral a.D. Effie Eitam gibt unumwunden zu: „Das Hauptproblem sind unsere Egos!“

„Können Sie mir die gegenwärtige politische Situation erklären?“, frage ich einen Juristen, der als Richter in einem der großen israelischen Gefangenenlager täglich über die Zukunft palästinensischer Terrorverdächtiger entscheidet. „Also, das ist ganz einfach…“, setzt er mit starkem amerikanischen Akzent an – und versinkt sinnend im Schweigen. Als ihn mein „Nu?!“ nach einiger Zeit aus seinen tiefgründigen Gedanken reißt, erklärt er: „Also, auf jeden Fall hat das nichts mehr mit Demokratie zu tun, wenn man einen Politiker für etwas wählt und er dann genau das Gegenteil tut.“

Es ist ein Phänomen, wenn eine Partei aus dem Nichts gestampft wird und innerhalb weniger Tage in Umfragen 45 bis 49 Prozent der potentiellen Wählerstimmen auf sich vereinigt. Dass diese Partei als „Flüchtlingslager für enttäuschte Politiker“ oder „Zufluchtsstadt für Korrupte“ bezeichnet wird, scheint die Befragten genauso wenig zu stören, wie die Tatsache, dass Kadima etwas von der Atmosphäre widerspiegelt: „Letztes Jahr standen wir vor einem Abgrund. In diesem Jahr machen wir einen großen Schritt voraus.“ Was bis zu den Wahlen am 28. März 2006 noch passieren wird, ist noch nicht vorhersehbar.

Wie aber ist der Kadima-Tsunami erklärbar? Vielleicht will sich die israelische Bevölkerung nur von den unangenehmen palästinensischen Nachbarn trennen, wie ein ehemaliger Rabin-Berater vermutet, und dafür ist ihr kein Preis zu hoch. Vielleicht aber hat die Mehrheit in Israel auch intuitiv erkannt – zwar mit viel Verspätung, aber immerhin –, dass der Kalte Krieg vorbei ist und man sich im 21. Jahrhundert einer neuen Realität zu stellen hat.

Ein halbes Jahrhundert lang hatte sich der jüdische Staat Israel in seiner Existenz bedroht gesehen, wobei ein palästinensischer Terrorstaat die größte strategische Gefahr darstellte. Mit dem Fall der Sowjetunion und des Irak wurde die Sicherheitslage im Nahen Osten umgekrempelt. Für die militärische Großmacht Israel ist die Hauptgefahr heute die demografische Entwicklung, die nur durch ein unabhängiges Palästina gebannt werden kann. „Ein jüdischer Staat mit einer jüdischen Mehrheit ist wichtiger“, so Ariel Scharon, „als die Unversehrtheit des Landes Israel.“

Anfang November – zwei Wochen vor der Gründung von Scharons neuer Kadima-Partei – hatte der junge national-religiöse Karikaturist Schai Tscharka im Jerusalemer Konrad-Adenauer-Zentrum eines seiner Werke vorgestellt. Unter dem Titel „Der Bulldozer“ ist da im ersten Teil die „Planierraupe Scharon“ zu sehen, die unter dem Motto „Kadima!“ die Siedlerbevölkerung Israels nach sich zieht. Über dem zweiten Teil der Karikatur steht „Und wieder zurück!“ und die Nachfolger der Planierraupe liegen platt gewalzt auf dem Wege. Vermutlich haben die PR-Berater Ariel Scharons diese Karikatur nicht gekannt, als sie den Namen der neuen Partei wählten.
(Foto: Gerloff)

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