JERUSALEM (inn) – Zwischen dem 7. und 14. November 1938 wurden im Deutschen Reich mehr als 1.400 Synagogen geschändet und zerstört. Dabei seien auch mehr als 200 Orgeln vernichtet worden, erklärt Peter Michael Seifried. Der Kirchenmusikdirektor ist Kantor an der Jerusalemer Erlöserkirche und hat anlässlich des 9. November den promovierten Musiker Jakub Stefek aus dem polnischen Szczecin (Stettin) eingeladen. „Wir freuen uns darüber, dass es den braunen Horden nicht gelungen ist, alles zu zerstören. Heute gibt es etwa 100 Synagogenorgeln, davon befinden sich etwa 50 in den USA, drei in Deutschland und zwei in Israel. Daran wollen wir mit dem Spielen jüdischer Komponisten erinnern.“
Dem Gedenkkonzert am Mittwoch geht ein einführender Vortrag der Musiker Seifried und Stefek am Vorabend voran. „Den meisten Menschen sind Orgeln vor allem aus Kirchen vertraut. Doch auch jüdische Gemeinden begannen im 19. Jahrhundert, Orgeln in ihren Synagogen zu installieren.“ Seifried begegnete ihnen erstmalig als Kind und Jugendlicher, als er allwöchentlich am Freitagnachmittag die Schabbatfeier mit dem Kantor Estrongo Nachama über den Radiosender RIAS hörte. „Er hatte eine gewaltige Stimme, und es wurden Werke von Louis Lewandowski und Salomon Sulzer gespielt.“
Wie akzeptiert die Orgel in Verbindung mit dem jüdischen Gemeindeleben war, macht Seifried deutlich, als er erklärt, dass sogar der preußische Ministerpräsident und spätere Reichskanzler Otto von Bismarck 1866 zur Eröffnung der größten Synagoge Mitteleuropas in der Berliner Oranienburger Straße kam. Ebenso besuchte der Kaiser Wilhelm II. am Reformationstag 1912 die kurz zuvor eröffnete Synagoge in der Berliner Fasanenstraße.
Stefek sieht viele Hinweise darauf, dass die Orgel schon lange vorher mit der jüdischen Kultur verbunden war. Er ist sogar der Überzeugung, dass es die Orgel seit Beginn der Menschheit gibt: „Bereits im Ersten Buch Mose wird Juval als Vater aller Zither- und Flötenspieler genannt. Beim ersten handelt es sich ganz klar um ein Saiteninstrument. Den zweiten Begriff, ‚ugav‘, übersetzen die meisten mit ‚Flöte‘.“ Scherzend fügt er hinzu: „Doch es muss sich um eine Orgel gehandelt haben, schließlich ist es mein Lieblingsinstrument.“ Auch in der jüdischen Literatur werde die „Magrefa“ erwähnt, ein orgelähnliches Instrument, das im Tempel zum Musizieren verwendet worden sei.
Sehnsüchte in der Musik
Musik entstehe nie im luftleeren Raum, sondern sei immer ein Produkt des Umfeldes und oft Ausdruck der Sehnsüchte und Wünsche der Komponisten. Juden in der Diaspora hätten sich oft im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Emanzipation befunden. Um eine Gesellschaft gemeinsam zu gestalten, müssten ähnliche Werte geteilt werden. „Auf die Befürchtung, die eigene Kultur zu verlieren, war daher Kunst eine gute Antwort. Die Menschen wollten Musik komponieren, die alle verstehen.“
Stefek schwärmt von seinem Lieblingskomponisten Arno Nadel (1878-1943), der in Auschwitz ermordet wurde: „Er war ja nicht nur Komponist, sondern auch Philosoph, Dramaturg, Schriftsteller und Maler.“ Von ihm spielt er in der Himmelfahrtskirche zwei Stücke, das „Orgelvorspiel für die Hohen Feiertage“ sowie das „Orgelvorspiel für die drei Trauerwochen“.
Ein bekannter Komponist sei auch Louis Lewandowski (1821–1894), der seit 1866 Kantor und Chorleiter in der Neuen Synagoge der Oranienburger Straße war. Stefek erklärt, wie Musik immer auf den Dialog ausgerichtet ist: „Das Ziel aller geistlicher Musik ist die Wiederholung. Lewandowskis Stücke geben den Dialog wieder, in dem sich Chor und Orgel befinden.“ Dieser Dialog wird im Konzert durch Stefek an der Orgel und den Kantoreichor der Erlöserkirche unter der Leitung von Seifried umgesetzt. Sie singen die „Deutsche Keduscha – Heiligung ‚Aus jeglichem Munde‘“ von Lewandowski, „Verleih uns Frieden gnädiglich“ von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) sowie den „Aaronitischen Segen ‚Es segne und behüte‘“ von Salomon Sulzer (1804-1890).
Stefek, der regelmäßig in den Gottesdiensten der Berliner Synagoge Pestalozzistraße spielt, erklärt: „Bei Lewandowski klingt vieles wie Mendelssohn, doch an anderen Stellen wird man denken ‚Typisch jüdisch‘. Oft singt der Kantor auf Deutsch und der Chor antwortet auf Hebräisch. Mit der Etablierung dieser Komponisten hat das Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine eigene Orgelmusik entwickelt.“
Stefek weiß: „Orgelmusik hat sich immer entwickelt und ist immer auch Ergebnis ihres Lebensumfelds. Auch wir sollten heute unsere eigene Musik entwickeln. Was werden Leute in 200 Jahren über die Musik sagen, die wir heute gestalten?“
Lewandowski in Synagoge der Oranienburger Straße und Himmelfahrtkirche
Bei seiner Begrüßung an diesem besonderen Gedenktag verweist der Propst der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Jerusalem, Joachim Lenz, auf zwei Personen: Der Berliner Polizist Wilhelm Krützfeld habe am Abend der „Reichskristallnacht“ entgegen seiner Anweisungen gehandelt und mit Zivilcourage dafür gesorgt, dass die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße vor der Zerstörung bewahrt blieb. „Krützfeld war kein Held, sondern ein ganz normaler Mensch, der seinem Gewissen treu geblieben war.“
Von einer anderen Frau habe Lenz erst zwei Tage zuvor erfahren. Ein Israeli habe ihn angerufen und gefragt, ob es für ihn, seine Schwester und die Mutter sicher sei, zum Konzert auf das Gelände der Augusta Viktoria auf dem Ölberg zu kommen. Seine Mutter Lilli Fliess habe als Kind die Gottesdienste in der Synagoge der Oranienburger Straße besucht und würde nun gern zum Orgelkonzert in die Himmelfahrtkirche kommen.
Familie Fliess kam zum Konzert und saß in der ersten Reihe: „Die Musik von Lewandowski klingt mir noch heute in den Ohren. Die ‚Keduscha‘ konnte ich sogar mitsingen. Auch der Segen von Sulzer ist mir gut bekannt. Ich war damals ein junges Mädchen und es hat mich zur Synagoge hingezogen. Fast an jedem Freitagabend war ich da. Mein Vater ist 40 Jahre Kantor gewesen.“
1939 sei die Familie nach Schanghai gezogen und habe dort die Kriegszeit verbracht. „Nach achteinhalb Jahren sind wir zurück nach Berlin gezogen und die jüdische Gemeinde in Weissensee engagierte meinen Vater erneut als Kantor. Mit der Bekanntgabe der Gründung des jüdischen Staates sind wir nach Israel eingewandert. Seit 1949 lebe ich in Israel.“
In der Himmelfahrtkirche auf dem Ölberg sei Fliess bisher noch nicht gewesen. „Die Musik heute hat mich aufgewühlt, es war eine besondere Erinnerung an meine Kindheit.“ Tochter Joel und Sohn Uriel waren ebenfalls bewegt: „Auch unser Vater stammte aus Berlin. Wir haben zuhause viel Deutsch gehört. Und nun die Musik zu hören, mit der unsere Mutter in Berlin aufgewachsen ist, ist eine bewegende Erfahrung.“ (mh)
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@ Redaktion. Herzlichen Dank für den Artikel.