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„Jede Nacht die Bilder vor Augen“

Jungen Leuten mögen 75 Jahre wie eine Ewigkeit erscheinen. Doch für die, welche die Gräuel des Krieges selbst erlebt haben, sind die Ereignisse von damals ganz präsent. Nachum Rotenberg hat Schreckliches mitgemacht. In Jerusalem erzählt der 91-Jährige seine Geschichte.
Lange hat Nachum Rotenberg über seine Erlebnisse in den Lagern geschwiegen. Nun erzählt er jungen Menschen seine Geschichte.

Nachum Rotenberg ist während des Welt-Holocaust-Forums in die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem gekommen, um zu erinnern. Im Einzelgespräch berichtet er auf Hebräisch von seinen Erlebnissen. 1928 als Sohn einer Bäckerfamilie im polnischen Lodz geboren, wuchs er unter harten Umständen im Ghetto auf.

Doch schon vorher erlebte er Diskriminierung: „Ich ging in eine Schule, auf der es neben den christlichen Polen auch viele Juden gab“, erzählt der 91-Jährige den Menschen, die es hören wollen. „Antisemitismus hat es bereits vor dem Krieg gegeben. In der Schule prüften die Lehrer immer unsere Fingernägel. Und wenn da Dreck drunter war, bekamen wir Juden einen Schlag auf die Finger, die Christen blieben verschont.“

Einmal habe ihm eine Lehrerin einen Zettel geschrieben. „Sie war eine tolle Frau, ich weiß nicht, ob sie Christin oder Jüdin war. Sie schrieb meiner Mutter, dass ich immer mein Butterbrot auf dem Stuhl liegen lassen würde. Ich hatte einfach keinen Hunger. Also gab ich es Jurek, meinem Banknachbarn. Der nahm es dankbar an. Mit der Besatzung der Deutschen von Polen im September 1939 durften wir Juden auch nicht mehr zur Schule gehen. Alle Volksdeutschen sollten sich melden. Einmal sah ich Jurek wieder. Er trug das Hakenkreuz und als ich ihn grüßte, rief er mir ‚Heil Hitler‘ zu. Dann wandte er sich von mir ab, als würde er mich nicht kennen.“

„Ich habe starke Zweifel, ob es einen Gott gibt. Wenn es einen Gott gäbe, wie kann er so etwas Schreckliches zulassen? Warum?“

Der Mann mit den kurzen weißen Haaren erzählt in knappen Sätzen: „1944 wurden wir abgeholt. Wir sollten zum Arbeiten kommen. Geld und alle Wertsachen sollten wir mitnehmen. Man nahm uns alles sofort ab. Als wir in Auschwitz ankamen, wurden mein Bruder und ich von meinen Eltern getrennt. Wir wussten, man würde sie zum Krematorium führen. Wir hatten keine Zeit, uns von ihnen zu verabschieden.“ Rotenberg guckt fassungslos: „Es war fürchterlich: Hunde bellten, die deutschen Soldaten brüllten, die abgeführten Menschen schrien. Die Menschen wurden verbrannt, es stank fürchterlich und die Asche hing dunkel am Himmel.“ Nach einer Pause fährt Rotenberg fort: „Wir schrien das ‚Schma Israel‘, doch nichts geschah. Kein Feuer, das vom Himmel fiel und die Nazis zum Stoppen brachte. Ich habe starke Zweifel, ob es einen Gott gibt. Wenn es einen Gott gäbe, wie kann er so etwas Schreckliches zulassen? Warum?“

Eine Arbeit zum Tod

Der sechs Jahre ältere Bruder Schmulik wurde zum Arbeiten in den Steinbruch geschickt. Nachum selbst meldete sich als Koch: „Sie fragten, ob es Köche unter uns gäbe. Alle meldeten sich, sie brauchten aber nur zwei. Sie wollten die nehmen, die am wenigsten wogen. Ich hatte Glück. Sie nahmen mich, weil ich nur 28 Kilogramm wog. Der andere wog 29 Kilogramm. Ich wusste, dass mein Körper zu schwach sein würde, um viel Essen aufzunehmen. Der andere aß viel. Er bekam Durchfall und starb noch in der selben Nacht.“

Rotenberg stützt sich auf seinen Stock, sein Blick schweift in die Ferne, doch wenn er erzählt, ist er konzentriert: „Schmulik wurde krank, er hatte Staub in den Lungen vom Steinbruch. Er bekam nichts zu essen, wir hatten keine Kleidung und keine Heizung. Irgendwann beschlossen die Deutschen, dass sie uns zum Arbeiten in Deutschland brauchten. Sie waren stark unter Druck. Sie hatten noch nicht einmal mehr Zeit, uns zu tätowieren.“ Rotenberg lächelt kaum merklich. „Deshalb habe ich keine Nummer am Arm.“

Nur wenige Wochen später, noch vor dem Winter 1944, wurden die Brüder nach Ahlem bei Hannover verlegt. Dort war ein Außenlager des bei Hamburg gelegenen KZ Neuengamme. „Schmulik war so schwach, er kam sofort ins Revier.“ Rotenberg spricht Hebräisch, doch an dieser Stelle benutzt er den alten deutschen Begriff für die Krankenstation. „Kurze Zeit später starb er. Wie bei so vielen war die offizielle Todesursache eine Grippe. Doch wir alle wussten, dass es der Staub in den Lungen von der Arbeit im Steinbruch war.“

Neues Leben in Israel

Rotenberg selbst konnte in der Wäscherei arbeiten. „Das war eine viel leichtere Arbeit als die im Steinbruch.“ Wann er aus Ahlem befreit wurde? Genau wisse er das nicht mehr, es müsse aber nach dem Pessachfest 1945 gewesen sein: „Da gab es eine Familie mit vier Kindern, bei denen wir feiern konnten. Ich erinnere mich, dass wir jemanden vor die Tür schickten, damit wir nicht entdeckt würden.“ Und dann kam die Befreiung: „Die Gestapo und SS waren schon geflohen. Mit einem Mithäftling floh ich. Wir suchten solange, bis wir in einem Stall eines deutschen Bauern unterkamen. Als die Deutschen hörten, dass der Krieg zu Ende ist, schlachteten sie ein Schwein. Aber ich konnte nichts davon essen. Nicht etwa aus religiösen Gründen. Ich war zu schwach und habe das Fett einfach nicht vertragen. Einen Tag später brachten uns die Amerikaner in das Heidehaus, ein Krankenhaus.“ Freuen konnte er sich nicht: „Meine ganze Familie war doch tot.“

1946 wanderte Rotenberg ins damalige Mandatsgebiet Palästina ein. Heute lebt er in Ramat Gan, nahe Tel Aviv. Er hat zwei Kinder, sechs Enkel und zwei Urenkel. Seine Tochter Sari ist 1966 geboren. Sie hat ihren Vater in die Gedenkstätte begleitet und erzählt nun selbst: „Lange habe ich nichts über die Geschichte meines Vaters gewusst. Ich habe immer nur schlimme Geschichten über die Deutschen gehört. Erst vor 15 Jahren fing er an zu erzählen. Bis heute fällt es mir schwer, nach Deutschland zu fahren.“ Bei aller Abneigung gegen Deutsche spricht sie jedoch mit Respekt von der heutigen Generation in Deutschland: „Inzwischen hat mein Vater richtig gute Freunde in Hannover. Die rufen ihn zum Schabbat an, haben ihm auch schon oft finanziell ausgeholfen.“ Und was wohl am wichtigsten ist: „Sie haben dafür gesorgt, dass Schmulik einen echten Grabstein in Hannover bekam. Den sucht mein Vater regelmäßig auf.“

1975 fuhr er zum ersten Mal wieder nach Deutschland, um in Berlin am Prozess gegen den Lagerältesten Heinrich Johann Wexler auszusagen. „Ich wollte mich an ihm rächen. Er hatte so viele Menschen auf dem Gewissen!“ Heute fährt er nach Deutschland, um jungen Menschen von seinen Erlebnissen zu berichten. Er hat sie auch schriftlich festgehalten: „Ich habe jede Nacht die Bilder vor Augen“ – so lautet der Titel des Büchleins, das in der Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem veröffentlicht wurde.

Die Zahl der Zeitzeugen wird auch in Israel immer kleiner, im Jahr 2019 sind 14.800 von ihnen gestorben. Noch gibt es Überlebende und noch bleibt Zeit, ihnen zuzuhören. Zusammen mit seinem Sohn fährt Rotenberg am 1. Mai wieder nach Neuengamme, um dort mit Interessierten seine Geschichte zu teilen.

Von: mh

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 1/2020 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/56677-00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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