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Israels „verlorene“ Nobelpreise

Der Nobelpreis für den US-Wissenschaftler Joshua Angrist hätte eine weitere Auszeichnung sein können, die Israels Preisträgerliste aufstockt. Der Wirtschaftsexperte ist nur ein Beispiel für unzählige Akademiker, die dem jüdischen Staat verlorengehen.
Von Antje C. Naujoks
Durch die hohe Abwanderung hat Israel mehrere Nobelpreise verloren

Als bekannt wurde, dass der am Massachusetts Institut für Technologie (MIT) lehrende Joshua Angrist mit zwei weiteren Wissenschaftlern mit dem 2021 verliehenen Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt wird, gab die Hebräischen Universität Jerusalem eine Glückwunschmitteilung heraus. Darin heißt es unter anderem: „Viele Studierende der Hebräischen Universität erachten es als Privileg, bei ihm gelernt zu haben.“

Da Angrist nicht nur US-Staatsbürger ist, sondern ebenfalls einen israelischen Pass besitzt, stand in Israel neben aller Freude für den Preisträger auch mit großer Ernüchterung das Thema der Abwanderung von Wissenschaftlern auf der Tagesordnung. Die Fachwelt bezeichnet es als „Brain Drain“. Nach wie vor zieht es einen hohen Prozentsatz israelischer Akademiker ins Ausland, vor allem Nachwuchswissenschaftler mit vielversprechendem Potenzial.

„Von Israel inspiriert“

Der heute 60-jährige Angrist wanderte 1982 nach seinem Bachelor-Studium in den USA nach Israel ein und leistete seinen Wehrdienst bei den Fallschirmjägern. Zwar setzte er 1985 sein Studium in den USA fort, kehrte aber 1991 erneut nach Israel zurück. Zunächst unterrichtete er bis 1995 als Dozent an der Hebräischen Universität, die ihn 1995 zum außerordentlichen Professor berief. Doch schon im darauffolgenden Jahr nahm er ein attraktives Lehrangebot des MIT an, das ihn lediglich zwei Jahre später zum ordentlichen Professor berief.

Angrist selbst sagte, dass seine Forschungen von Anfang an von „Israel inspiriert“ waren und es auch immer noch waren, als er 2004 als Professor für einen längeren Forschungsaufenthalt ein drittes Mal nach Israel zurückkehrte. In der Begründung zur Nobelpreisvergabe werden seine frühen empirischen Studien als ausschlaggebend für die Verleihung dieser Auszeichnung angeführt. Kein Wunder, dass in Israel Nachdenklichkeit darüber aufkam, diesen brillanten Akademiker an das MIT verloren zu haben.

Israels akademische Welt

Israel gilt als hochgebildete Nation. Nicht weniger als 49 Prozent der zwischen 25- und 64-jährigen Einwohner haben mindestens einen akademischen Grad vorzuweisen. Zwischen 1989 und 2017 verdreifachte sich die Zahl der Studierenden auf 306.000. Laut Angabe des Rates für höhere Bildung machten zwischen 1985 und 2005 nicht weniger als 360.000 Israelis universitäre Abschlüsse. Trotz jährlichen Studiengebühren zwischen 3.000 und 4.000 Euro, die wegen hoher Lebenshaltungskosten umso schwerer zu bestreiten sind, zählt Israel im laufenden akademischen Jahr mehr als 336.000 Studenten.

Ein Doktortitel kann an einigen wenigen der über 60 akademischen Kollegs oder an neun der zehn Hochschulen des Landes erworben werden, von denen einige zu den weltweit besten Institutionen der höheren Bildung zählen. Gegenwärtig sind 12.000 Doktoranden eingeschrieben. Potenziell repräsentierten sie die Generation der Nachwuchswissenschaftler. Doch gerade sie haben es in Israel extrem schwer, Anstellungen an Institutionen der höheren Bildung zu finden.

Dazu gibt der Rat für höhere Bildung an: 1989 waren an Israels Universitäten 3.884 Lehrkräfte beschäftigt. Bis 2017 stieg ihre Zahl um rund 40 Prozent auf 5.426. Diese Steigerung stand jedoch nicht im Verhältnis zum Wachstum der Bevölkerung des Landes, die sich in diesem Zeitraum annähernd verdoppelte. Seither werden Stellen im akademischen Bereich immer wieder einmal abgebaut, anstatt sie allein schon aufgrund der zunehmenden Studentenzahl aufzustocken.

Mangelnde Zukunftsperspektive

Ohne Ausblick auf Anstellung, ganz zu schweigen von attraktiven Aufstiegschancen, nahm schon vor Jahrzehnten der Anteil der ins Ausland abwandernden Jungakademiker immer mehr zu. Junge Wissenschaftler, die sich eine Karriere in Israel aufbauen wollen, blicken nicht nur auf ein bescheidenes Kontingent akademischer Stellen. Sie müssen zudem in Kauf nehmen, dass in Israel akademische Gehälter festgesetzt sind und sich im Vergleich mit der Entlohnung hochqualifizierter Akademiker in anderen Ländern überdies bescheiden ausnehmen.

Für unzählige Israelis wird ein Stipendium zur Absolvierung eines Post-Doktorates im Ausland zum Karrieresprungbrett. Beginnen sich Nachwuchswissenschaftler erst einmal an ausländischen Hochschulen zu etablieren, werden häufig aus wenigen Jahren etliche mehr oder gar ein „für immer“. Sie haben nicht nur eine Position, auf die sie in Israel so gut wie keine Aussicht gehabt hätten, sondern haben Aufstiegschancen und verdienen auch noch besser. Häufig kommen auch noch attraktive Forschungsbedingungen hinzu, vor allem wenn es um technische Ausrüstung, Labore und ähnliches geht.

Vorrangiges Ziel: Die USA

Zum Thema „Brain Drain“, dem Abgang von Intelligenz, forscht seit Jahren Dan Ben-David, der an der Tel Aviv Universität lehrt. Erst kürzlich warnte er erneut, dass Israel endlich aktiver werden muss, um zum einen Nachwuchswissenschaftlern eine Perspektive zu bieten, so dass sie gar nicht erst ins Ausland gehen und um zum anderen brillante Köpfe aus dem Ausland zurückzuholen. Das gilt insbesondere für israelische Wissenschaftler, die in die USA abgewandert sind. Um das Ausmaß des Phänomens des Akademikerabgangs zu veranschaulichen, sagte Ben-David: „Israelische Akademiker, die zwischen 2003 und 2004 in den USA lehrten und forschten, machen 24,9 Prozent des gesamten akademischen Personals israelischer Institutionen der höheren Bildung aus.“

Mehr noch: Ben-Davids neuere Studien zeigen auf, dass der Prozentsatz der aus Israel stammenden Wissenschaftler vor allem an Hochschulen in den USA weiterhin wächst. Dafür schaute sich dieser israelische Experte die Fachbereiche Chemie, Physik, Philosophie, Computerwissenschaften, Ökonomie und Betriebswirtschaft an 40 führenden US-Universitäten näher an. Er ermittelte, dass in den Bereichen Chemie, Physik und Philosophie israelische Forscher ein Kontingent stellen, das zwischen 10 und 13 Prozent der Gesamtzahl der leitenden Fakultätsmitglieder solcher Fachbereiche in Israel ausmacht. Im Bereich der Computer- und Wirtschaftswissenschaften steigt der Satz auf 21 beziehungsweise 23 Prozent und klettert im Sektor der Betriebswirtschaft gar auf 43 Prozent. „In den USA stößt man auf Fachbereiche für Betriebswirtschaft mit einer doppelstelligen Zahl israelischer Fakultätsmitglieder“, sagte Ben-David dazu.

Staatliche Anreize

Natürlich wandern israelische Nachwuchswissenschaftler nicht nur ins Ausland ab. Einige bleiben im Land, andere kehren zurück. Bereits Anfang der 1980er Jahre gab es in Israel Diskussionen darüber, wie eine Umkehrung des akademischen Abwanderungstrends zu erwirken sei. 2010 rief die Regierung ein vielseitig operierendes nationales Programm zur Rückholung von vielversprechenden Akademikern ins Leben. Abgesehen von steuerlichen Vergünstigungen, mit denen Akademikern die Rückkehr grundsätzlich schmackhaft gemacht werden soll, setzt die Regierung auf ein mehrjähriges Reformprogramm des eigenen Hochschulsektors. Dies geschieht insbesondere im Bereich der Forschungskapazitäten. Darüber hinaus wurden Mechanismen zur Erschließung adäquater Stellen auf dem freien Markt der israelischen Hochtechnologie erschaffen.

2016 konnten die Behörden beispielsweise vermelden, dass 8.900 Israelis, die mehr als ein akademisches Jahr lang im Ausland wirkten, nach Israel zurückkehrten. Doch dann wird es still um das Thema, vor allem bezüglich Angaben zur Integration der Rückkehrer oder gar zur Frage, ob sie im Land geblieben sind. Die israelischen Ministerien sind zwar bemüht, aber sie ziehen nicht an einem Strang, so dass auch die vielversprechendsten Maßnahmen immer wieder ins Stocken geraten.

Israel blickt zwar auf Nobelpreisträger wie die Biologin Ada Jonath und den Chemiker Aaron Ciechanover, die den Weg vom US-amerikanischen MIT zurück nach Israel an das Weizmann-Wissenschaftsinstitut und an das Technion fanden. Doch zugleich muss es auch wahrnehmen, dass weder der gebürtige Kibbuznik Arieh Warshel und der einst aus Südafrika nach Israel eingewanderte Michael Levit am Weizmann-Institut zu halten waren. Sie stockten 2013 die Liste der US-amerikanischen Nobelpreisträger auf.

Von: Antje C. Naujoks

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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