Zähneknirschend, aber immerhin: Die Regierung Sharon hat am Sonntag in ihrer Kabinettssitzung die „Roadmap“ akzeptiert. Dieser „Fahrplan zu einem Frieden in Nahost“ – wörtlich übersetzt bedeutet „Roadmap“ „Straßenkarte“ – sieht bis Ende des Jahres einen provisorischen Palästinenserstaat in vorläufigen Grenzen vor. Bis Ende 2005 soll stufenweise und durch Endstatusverhandlungen ein unabhängiger Palästinenserstaat entstehen.
Mit dieser Kabinettsabstimmung hat sich erstmals in der Geschichte eine israelische Regierung auf das Konzept eines unabhängigen Palästina festgelegt. Ariel Sharon verkündete: „Ich werde jede Anstrengung unternehmen, den Plan voranzutreiben.“ Aus seinen Befürchtungen machte er kein Hehl: „Ich habe meine Zweifel.“ Und: „Ein Palästinenserstaat ist nicht der Traum meines Lebens.“ Aber: „Wir dürfen nichts unversucht lassen.“ Verteidigungsminister Shaul Mofaz, der von Anfang an vor den Gefahren der Roadmap gewarnt hat, schob nach: „Wir sind bereit, den Prozeß positiv anzugehen“.
Das Ja der israelischen Regierung zu einem Palästinenserstaat gehört gewiß nicht gerade zu den Uridealen der zionistischen Idee. Darin sind sich nicht nur die beteiligten israelischen Entscheidungsträger einig. Aber es kann doch als konsequente Entscheidung angesichts der Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre gewertet werden. Sharon steht mit seiner Einschätzung nicht allein: Es liegt nicht im Interesse des Staates Israel, dauerhaft über 3,5 Millionen Palästinenser zu herrschen. Deshalb muß eine Lösung gefunden werden.
Natürlich schreit die politische Rechte: „Verrat!“ Siedlerveteran Elyakim Ha’Etzni aus Kiryat Arba bei Hebron kommentiert Meinungsumfragen, denen zufolge eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung die Roadmap befürwortet: „Im Holocaust sind Juden auch bereitwillig in die Züge eingestiegen, die in die KZs fuhren.“ Gegenüber Radio Kol Israel bezeichnete er den Sonntag als „historisch, insofern auch der Tag der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem ,historisch‘ war“.
Aber der Protest bleibt erstaunlich leise. Die wenigen Demonstranten der „Frauen in Grün“, die sich am Sonntag vor dem Büro des Premierministers eingefunden hatten, wurden zwar vom Fernsehen beachtet, hatten aber offensichtlich Mühe, dem breiten Volk die Bedeutung ihres Anliegens zu vermitteln. 5.000 äthiopisch-stämmige Israelis, die für die Einwanderung ihrer Familienangehörigen aus Afrika demonstrieren, hinterlassen einen bei weitem tieferen Eindruck.
Einen Ausweg haben sich die israelischen Politiker allerdings gelassen: „Auf der Basis der Verlautbarung der US-Regierung vom 23.5.03, in der sich die USA verpflichten, Israels Kommentare zur Roadmap vollkommen und ernsthaft in der Umsetzungsphase anzusprechen.“ Und: „Die Regierung erwartet, daß alle Ergänzungen Israels in der Umsetzungsphase der Roadmap vollkommen umgesetzt werden.“
Was ist, wenn die USA dies nicht tun? Oder wenn Israel die Art und Weise nicht als „vollkommen und ernsthaft“ betrachtet? Der Knessetabgeordnete und Vorsitzende des Außen- und Verteidigungskomitees der Knesset, Yuval Steinitz, will ein Sonderkomitee einsetzen, das überprüfen soll, ob wirklich alle Ergänzungen Israels zur Roadmap wirklich vollkommen umgesetzt werden. Die Liste der israelischen Forderungen als Vorbedingungen für die Annahme der Roadmap beinhaltet:
-> eine grundsätzliche Reform der palästinensischen Sicherheitskräfte;
-> ein nachweisbares Vorgehen dieser Sicherheitskräfte gegen jeden Terror und jede Gewaltanwendung von seiten der Palästinenser;
-> eine sofortige und nachweisbare Einstellung der Hetze gegen den Staat Israel und das jüdische Volk in der Palästinensischen Autonomie (PA);
-> die Auflösung der Terrororganisationen Hamas, Islamischer Jihad, Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), der Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden (PLO-Fatah) und anderer Apparate, sowie ihrer Infrastruktur;
-> das Einziehen aller illegalen Waffen, ihre Überstellung an eine dritte Partei, ihren Abtransport und ihre Zerstörung;
-> die Einstellung des Waffenschmuggels und der Waffenproduktion innerhalb der PA;
-> weitere Regierungsreformen in der PA und eine vollkommen neue palästinensische Führung;
-> Neuwahlen des Palästinensischen Legislativrates (Palästinenserparlament) in Koordination mit Israel.
Im Blick auf den künftigen Palästinenserstaat fordern die Israelis:
-> der Charakter des provisorischen Palästinenserstaates wird durch Verhandlungen zwischen Israel und der PA festgelegt;
-> dieser Staat wird vollkommen demilitarisiert sein, d.h. keine eigenen Streitkräfte besitzen;
-> er wird keine Verteidigungsbündnisse oder Militärkooperationen eingehen können;
-> Israel wird sämtliche Transfers von Personen oder Gütern an den Außengrenzen sowie den Luftraum kontrollieren;
-> im provisorischen Stadium, wie auch im Endstatus muß der Palästinenserstaat Israels Existenzrecht als jüdischer Staat festschreiben;
-> und die Forderung einer Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in den Staat Israel grundsätzlich aufgeben;
-> am Ende des Prozesses steht ein Ende aller Ansprüche, nicht nur ein Ende des Konflikts.
„Es wird keinen Fortschritt zu einer zweiten Phase geben, solange diese Bedingungen im Kampf gegen den Terror nicht erfüllt sind“, bemerkt das israelische Regierungspapier, und: „Entscheidend sind nicht die Zeitpläne, sondern die Erfüllung der Bedingungen.“ Kommentatoren beobachten ganz richtig: Ein einziger palästinensischer Terroranschlag kann diesen Regierungsbeschluß innerhalb von Sekunden rückgängig machen.
Für die Palästinenser ist nicht nur die israelische Forderung schwer verdaulich, das Rückkehrrecht in das Staatsgebiet Israels grundsätzlich und ein für allemal aufzugeben, sondern auch der Nachdruck des jüdischen Staates auf einer Verhandlungslösung. Die Israelis fordern als Rechtsgrundlage ausdrücklich ausschließlich die UN-Resolutionen 242 und 338. Darin wird ein Ende der Besatzung und ein Rückzug auf sichere und international anerkannte Grenzen gefordert. Im Gegensatz, zum Beispiel, zur sogenannten Saudi-Initiative, die die Waffenstillstandslinien von vor 1967 als Grenzen fordert, legen die UN-Resolutionen 242 und 338 die Grenzen allerdings nicht fest.
Damit ist alles offen. Nicht nur die Zukunft der jüdischen Siedlungen in den umstrittenen Gebieten und die Grenzen Israels und des künftigen palästinensischen Staates, sondern auch der Status Jerusalems und die Institutionen der PA in der Heiligen Stadt sind Verhandlungssache – und nicht etwa bereits ausgehandelte Tatsache. Nicht unpassend bezeichnete Israels Verteidigungsminister Shaul Mofaz die Roadmap nicht etwa als „rechtlich bindendes Dokument“, sondern als „Erklärung diplomatischer Absichten“.
Ob das vor allem im europäischen Ausland wahrgenommen wird, und ob die Europäer diesen Stand der Dinge ihren arabischen und vor allem palästinensischen Freunden zu vermitteln wissen, bleibt abzuwarten. Im Rückblick auf das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrtausends bleibt festzuhalten: Ein Hauptfaktor für das Scheitern der Abkommen von Oslo waren maßlos überhöhte Erwartungen auf allen Seiten, schwammige Formulierungen in den Vereinbarungen und – daraus resultierend – unterschiedliche, nicht selten unvereinbar gegensätzliche Interpretationen.