LEIPZIG (inn) – Die Leipziger Buchmesse ehrt den aus Israel stammenden Autor Tomer Gardi mit dem diesjährigen Preis in der Kategorie Belletristik. Dies gab die Jury am Donnerstag bekannt. Weil mehrere Verlage wegen der Corona-Pandemie abgesagt hatten, findet die Messe zum dritten Mal in Folge digital statt.
Gardi erhält die Auszeichnung für seinen Roman „Eine runde Sache“. Das Besondere sind die beiden Teile: Einen hat der in Berlin lebende Israeli in seinem fehlerhaften Deutsch geschrieben, das ihn bei einem früheren Buch zum Titel „Broken German“ inspirierte. Den zweiten Teil hat er auf Hebräisch verfasst, dann wurde er ins Deutsche übersetzt – ohne sprachliche Fehler.
In der Begründung der Jury heißt es: „Unverschämt, dieser Tomer Gardi. Den ersten Teil seines Romans erzählt er nicht in astreinem Deutsch, sondern in einer Kunstsprache mit eigenartiger Rechtschreibung und merkwürdigem Satzbau. Broken German. Es gibt einen zweiten Teil, oder besser: Es gibt den Roman doppelt. Jetzt hat Tomer Gardi ihn auf Hebräisch geschrieben. Anne Birkenhauer hat ihn ins Deutsche übersetzt.“
Bedürfnis nach Korrektheit hinterfragt
Die Jury der Leipziger Buchmesse bezeichnet „Eine runde Sache“ als „Schelmenstück“ und ergänzt: „Wirklichkeit und Fiktion prallen darin aufeinander wie das Echte und das Gemachte. Dabei spielt Gardi ebenso kunstvoll wie dreist mit Lesegewohnheiten und Erwartungen an einen Roman, zumal an einen deutschsprachigen.“
In der Begründung wird ein Satz aus dem Buch zitiert: „(…) ein Schriftsteller ist jemand, der Schwierigkeiten hat mit die deutsche Sprache“. Gardi hinterfrage „unser Bedürfnis nach Korrektheit und Geradlinigkeit ebenso wie ästhetische Normen. Dahinter lauert die bittere Frage, wie es einem Menschen überhaupt gelingen kann, seine eigene Sprache zu finden“. Es handele sich um einen großzügigen Roman von hoher sprachlicher Präzision.
Vorübergehend Schule in Wien besucht
Tomer Gardi wurde 1974 im Kibbutz Dan in Obergaliläa geboren. Seine Familie hat Wurzeln in Rumänien und Ungarn. An der Hebräischen Universität Jerusalem studierte er Literatur- und Erziehungswissenschaft. Anschließend setzte er sein Studium in Berlin mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Erziehungswissenschaft fort.
Doch sein erster Kontakt mit der deutsche Sprache war schon früher: „Als Kind, zwischen dem zwölften und dem fünfzehnten Lebensjahr, wohnte ich mit meinen Eltern in Wien und besuchte eine amerikanische Schule“, erzählte er unlängst der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“. „Dort wurde Englisch gesprochen, auf der Straße aber, beim Fußballspielen sprach ich mit den anderen Kindern Deutsch. Meine ersten Schritte in dieser Sprache ging ich also nicht durch Lesen und Schreiben, sondern durch Hören und Sprechen.“
Im ersten Teil von „Eine runde Sache“ unternimmt der Erzähler eine fantastische Reise in einen Märchenwald. Begleitet wird er von einem Wolf und dem Erlkönig. Der zweite, ursprünglich hebräische Teil greift die reale Biographie des indonesischen Malers Raden Saleh aus dem 19. Jahrhundert auf. Er stammt aus Java. Von dort unternahm er eine Reise, die ihn nach Antwerpen, Den Haag, Dresden und Paris führte – und am Ende wieder nach Hause.
Wie die Jury sieht die „Jüdische Allgemeine“ trotz der unterschiedlichen Themen eine Parallelität: „Bei genauem Hinsehen spiegeln sich beide Romanteile, sie beziehen sich aufeinander. Es geht beide Male um das Verlassen und Heimkehren, um die Rückkehr nach einer inneren Wandlung, um Lebensrundungen.“
Auseinandersetzung mit der eigenen Identität
In Jerusalem hatte der Israeli für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet, die viele Kontakte zu Palästinensern pflegte. Die „Zweite Intifada“ brachte ihn 2004 dazu, nach Berlin zu wechseln. Dort blieb er wegen der Liebe zu einer Deutschen, Mieke, hängen. Die beiden sind bis heute ein Paar, zwischenzeitlich haben sie in Tel Aviv gelebt. 2018 kehrten sie nach Neukölln zurück.
Ein Gerücht aus seiner Kindheit inspirierte Gardi zu dem Buch „Stein, Papier: Eine Spurensuche in Galiläa“. Demnach wurde das Museum für Natur und Geschichte in seinem heimatlichen Kibbutz Dan aus den Steinen einer arabischen Ortschaft erbaut, die im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948/49 zerstört worden war. 2011 erschien das Buch in Israel, zwei Jahre später in Deutschland.
Beim Schreiben habe er für sich „so etwas wie eine Brücke zwischen Israel und Neukölln gebaut“, sagte er im Gespräch mit der „Jüdischen Allgemeinen“. „Ich lernte hier sogar zwei junge Palästinenser kennen, deren Familien aus genau jenem zerstörten Dorf stammen, aus Hunin.“
Zu seinem Schaffen merkte Gardi an: „Mit jedem Buch, mit jedem Projekt treffe ich neue Entscheidungen über meine Identität, das spiegelt sich auch im ständigen Wechsel zwischen Hebräisch und Deutsch wider. Es ist immer ein neuer Anfang.“ Aus dem „Außenseiter-Deutsch“ sei durch die Nutzung als literarische Sprache eine Kunstsprache entstanden. (eh)