VENEDIG (inn) – Auf dem Filmfestival von Venedig hat am Samstag die erste israelisch-iranische Koproduktion der Geschichte Premiere. Der Film „Tatami“ handelt von einer iranischen Judoka. Das Regime verlangt, dass sie eine Verletzung vortäuscht und auf eine mögliche Medaille verzichtet, um einer israelischen Kontrahentin zu entgehen. Während der Dreharbeiten wurde dem Filmteam bewusst, wie aktuell die fiktive Handlung ist.
Guy Nattiv kam während der Corona-Pandemie auf die Idee für das Drehbuch. Er hatte 2019 für seinen Kurzfilm „Skin“ den Oscar gewonnen. Überdies wurde er als Produzent von „Golda“ mit der britischen Schauspielerin Helen Mirren einem größeren Publikum bekannt. Der Film feierte in diesem Jahr auf der Berlinale seine Premiere.
Nattiv bezeichnet sich selbst als „Nachrichtenjunkie“. Dadurch stieß er auf einen Artikel über die erste iranische Boxerin Sadaf Khadem. Sie trat 2019 bei einem Wettkampf in Frankreich an. Da sie den Hidschab nicht trug, drohte ihr im Iran die Festnahme, und sie kehrte nicht mehr zurück. Von dieser und anderen Geschichten ließ er sich inspirieren.
Israeli brauchte Hilfe von Iranerinnen
Schnell wurde ihm klar: Er brauchte Hilfe für das Projekt. Erstens ist er kein Iraner, und – besonders schlimm – sogar Israeli. Zwischen den beiden Ländern herrscht bittere Feinschaft. Außerdem ist er keine Frau.
„Ich wollte also mit weiblichen iranischen Stimmen zusammenarbeiten“, sagte Nattiv dem „Hollywood Reporter“. Er kontaktierte die Schauspielerin und Drehbuchautorin Elham Erfani, die in Paris lebt. Gemeinsam schrieben sie das Drehbuch. Es stützt sich auf die Erlebnisse mehrerer Athletinnen, die den Iran wegen der Einschränkung ihrer Freiheit verlassen haben.
Zu ihnen gehört die Taekwondo-Sportlerin Kimia Alisadeh: Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro gewann sie für den Iran eine Bronzemedaille. Doch 2020 wanderte sie nach Deutschland aus und schloss sich für die Spiele in Tokio 2021 dem internationalen Flüchtlingsteam an.
Ebrahimi als Leilas Trainerin
Die Rolle des Hauptcharakters Leila übernahm die US-Schauspielerin Arienne Mandi („The L Word: Generation Q“), deren Vater aus dem Iran stammt. Das Drehbuch gelangte auch in die Hände der iranischen Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi, die seit 2008 in Paris lebt und seit 2017 die französische Staatsbürgerschaft besitzt.
In Cannes gewann sie 2020 die Goldene Palme als beste Schauspielerin für den Film „Holy Spider“. Er handelt von einem Serienmörder in der heiligen iranischen Stadt Maschhad und stützt sich auf eine wahre Begebenheit. Vom iranischen Kulturministerium wurde er verurteilt.
Ebrahimi erklärte sich bereit, Leilas Trainerin Maryam zu mimen. Diese redet im Film auf die Judoka ein, sich an die Anweisungen des Regimes zu halten.
Doch Nattiv erkannte, dass das Casting von Exiliranern und eine iranische Koautorin für das Drehbuch nicht ausreichten: Auch bei der Produktion selbst benötigte er eine iranische Partnerin, um die Geschichte nicht aus einer israelischen Perspektive zu erzählen. Und so wandte er sich erneut an Ebrahimi, diesmal mit der Frage, ob sie auch Koproduzentin werden und die Rollenbesetzung leiten könne.
Selbst in Paris Furcht vor dem Regime
Sie freute sich über das Angebot, versucht sie doch, vom Schauspielern zur Arbeit hinter der Kamera überzuwechseln. Dennoch konnte sie die Entscheidung nicht sofort treffen.
„Ich habe etwas Zeit gebraucht, weil es ein riskantes Projekt für mich ist, selbst als Exilkünstlerin“, sagte Ebrahimi dem „Hollywood Reporter“. „Aber irgendwann dachte ich einfach: ‚Es gibt keinen Grund, überhaupt darüber nachzudenken – ich muss mit ihm bei diesem Film zusammenarbeiten.‘“
Dass sie sich selbst in Paris angesichts einer persönlichen Entscheidung vor dem so weit entfernten Regime fürchtete, wies sie auf ein wichtiges Element der Botschaft im Film hin. „Das war genau die Geschichte, die er erzählen wollte.“ Sie willigte ein.
„So wurde diese allererste israelisch-iranische Zusammenarbeit geboren, indem man einfach etwas Authentisches machen und diesen Kämpferinnen eine Stimme geben wollte“, sagte Nattiv. Er habe erst dann gemerkt, dass das Projekt wirklich historisch ist.
Proteste im Iran erschütterten Filmteam
Die Vorproduktion begann im Frühling 2022. Als Drehort wurde die georgische Hauptstadt Tiflis ausgewählt. Die sowjetische Architektur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts könnte durchaus Orte im Iran darstellen. Außerdem gilt Tiflis als Welthauptstadt des Judo, die nötige Sportinfrastruktur war also vorhanden.
Während der Dreharbeiten erschütterte am 16. September der Tod von Mahsa Amini den Iran. Das etwa zwei Flugstunden entfernte Team wurde von den Schlagzeilen getroffen, die ihrem Projekt zusätzliches Gewicht verliehen, wie der „Hollywood Reporter“ schreibt.
Bei den Iranern sei kein Auge trocken geblieben, erzählte Ebrahimi – vor allem, als sie die spannungsgeladene Szene drehten, in der Leila ihren Hidschab ablegt. Die Abnahme der Zwangskopfbedeckung für Frauen wurde nach Aminis Tod zum Symbol der Protestbewegung.
Handlung geheim gehalten
Aus mehreren Gründen hielten die Verantwortlichen das Projekt zunächst geheim. Sie verschwiegen Titel und Handlung des Films. Beim öffentlichen Casting lief er unter der Überschrift „Judo“, im Februar wurde die Handlung mit „Untitled Judo“ (Unbetiteltes Judo) öffentlich gemacht. Der heutige Titel „Tatami“ ist die Bezeichnung für eine traditionelle Matte, auf der Judokas ihre Kämpfe austragen.
Ein Grund für die Verschwiegenheit waren die engen Beziehungen zwischen Georgien und dem Iran. Der Kaukasusstaat ist eines der wenigen Länder, für deren Besuch Iraner kein Visum benötigten. Ferner sollen iranische Sicherheitsdienste dort aktiv sein. Je weniger Menschen davon wussten, mit desto weniger Störungen war zu rechnen.
Reise nach Israel: Ebrahimi entdeckte Gemeinsamkeiten
Ein Geheimnis blieb ebenso Ebrahimis Reise nach Israel, um mit Nattiv das Material aufzubereiten. Dafür nutzte sie ihren französischer Pass.
Nattiv erinnerte sich: „Es war für uns beide sehr emotional.“ Die Iranerin habe ihm erzählt, dass sie von diesem Augenblick geträumt hatte. „Denn sie hatte Israel zu Hause, als sie ein Kind war, als so etwas Feindseliges betrachtet – und nun war sie dort und trank mit ihrem israelischen Freund Kaffee.“
Ebrahimi fühlte sich nach eigener Aussage gleich zu Hause: „Es ist erstaunlich, wie selbst die Städte einander ähnlich sehen können. Die Menschen sind fast gleich.“ Sogar Hebräisch habe für sie eine Nähe zur persischen Sprache. Und die Proteste gegen die Regierung erinnerten sie ebenfalls an den Iran.
Auch Nattiv empfindet die letztgenannte Ähnlichkeit, er formulierte es noch schärfer: „Die israelische Demokratie ist in Gefahr, und ich sehe eine Beziehung zwischen dem Iran und Israel.“ Die Pläne der Regierung erinnerten ihn an die iranische Revolution 1979. Als „Golda“ im Juli auf dem Jerusalemer Filmfestival vorgestellt wurde, nahm er mit seinem Vater an Demonstration teil.
„Nach fünf Minuten beste Freunde“
Im Mittelpunkt stehen jedoch die persönlichen Gemeinsamkeiten: „Wir haben fünf Minuten gebraucht, um beste Freunde und Familie zu werden. Wir essen den gleichen Hummus, die gleiche Pita, die gleiche Falafel. Wir hören die gleiche Musik. Wir lieben das gleiche Kino. Man trifft den sogenannten Feind außerhalb Israels, und es ist quasi: ‚Hey, ich habe dich in meinem Leben vermisst‘.“
Nattiv betrachtet Ebrahimi als Muse und als Freundin fürs Leben. Sie sagt, „Tatami“ sei nicht nur ein „künstlerisch und ästhetisch schöner“ Film. Er mache auch eine sehr menschliche politische Aussage. (eh)
5 Antworten
Ich hab dich in meinem Leben vermisst…
@ Redaktion: Dankeschön für dem emotionalen, menschlichen Artikel. Es könnte alles so einfach sein.
Shabbat Shalom
Ein ziemlich langweiler und schlechter Film.
Kommt auf die Sichtweise an.
Entspricht er nicht Ihrer Ideologie?
Es ist ein großer Erfolg, dass dieser Film zustande kam. Das demonstriert auch, dass es viel einfacher zwischen Israel und Iran sein könnte, wenn es den Regime-Wechsel gegen die Mullahs gäbe. Und das muss geschehen ! Diese Welt, und auch die Bevölkerung des Irans leidet unter den Mullahs, wann gibt es mal eine Wende ?!