Geboren bin ich 1928 als ältestes von fünf Kindern in Gelsenkirchen. Ich erinnere mich an die Reichskristallnacht. Sie schmissen Steine, auch in unseren Garten. Wir wohnten im vierten Stock, aber mein Vater musste sein Textilgeschäft schließen. In der Nachbarschaft schmissen sie die Fenster eines großen Kaufhauses ein, das einem Juden gehörte.
Am 11. Januar 1939 setzten meine Eltern mich und meine Schwester in den Zug nach Holland. Das war aber illegal, denn wir hatten zwar eine Fahrkarte, aber kein Visum. Als wir an die Grenze kamen, stiegen plötzlich 50 blonde holländische Kinder ein, die von Deutschland nach Holland fuhren. Genau in dem Moment, als wir ohne Papiere die Grenze überqueren sollten, stiegen sie hinzu. Sie saßen um uns herum und so saßen wir nicht mehr allein im Abteil, sondern gemeinsam mit ihnen. Weder der Schaffner noch der Zöllner beachteten uns zwischen den ganzen Kindern. Zufällig hatten wir die gleichen Schulranzen wie die anderen Kinder. Als wir in Holland ankamen, ging ich zum Schaffner und sagte: „Wir sind Juden“. Er fragte: „Wo sind deine Eltern?“ Ich antwortete: „Sie sind nicht hier.“
Eine Frau von der jüdischen Gemeinde holte uns ab. Meine Schwester und mich schickten sie zu unterschiedlichen Familien. Ich kam zur Familie Jaap van Amerongen. Er war ein sehr bekannter Mensch und verantwortlich für die zionistische Bewegung in Holland. Er hatte drei Kinder und sie adoptierten mich. Eines sonnigen Tages im Jahr 1940 bekam ich eine Postkarte von meiner Mutter, die bei den kleinen Geschwistern war. Sie schrieb mir, dass sie ein Paket bekommen hatte. Sie ging zur Post, um es abzuholen. Dort bekam sie die Nachricht: „In dem Päckchen ist die Asche deines Mannes.“ Sieben Mark musste sie der Post dafür bezahlen. Das Paket kam aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen.
Meine Schwester wurde im Juni 1943 mit ihrer Adoptivfamilie und 3.000 weiteren Menschen nach Sobibor geschickt. Dort wurden sie alle sofort umgebracht. Meine Mutter haben sie mit meinen kleinen Geschwistern nach Riga geschickt, danach ins Warschauer Ghetto. Ich habe nie wieder von ihnen gehört. Ich hatte das Glück, dass ich Teil der Familie van Amerongen war. Im September 1943 schickten sie uns nach Bergen-Belsen, wo ich bis Kriegsende blieb. Am 15. April kamen die britischen Panzer ins Lager, um uns zu befreien. Es waren etwa 15.000 Gefangene. Ich erkrankte an Typhus, und obwohl es kein Antibiotikum gab, überlebte ich.
Als ich zurück nach Holland ging, hatte ich wieder Glück. Den Juden, der uns dort empfing, kannte ich noch von vor dem Krieg aus Gelsenkirchen. Er nahm mich mit nach Amsterdam und ich konnte mein Abitur zu Ende führen. Im Mai 1948 war ich noch in Holland. Es gab eine große Feier, als die Vereinten Nationen ihre Entscheidung verkündeten. Alle wussten, dass es nun einen jüdischen Staat gab. Es war in allen Nachrichten. In Amsterdam kam die jüdische Gemeinde im großen Konzerthaus zusammen. Sie sangen und tanzten. Van Amerongen hielt eine Rede. Er war sehr geschickt, was Finanzen angeht. Als er später nach Israel auswanderte, holte ihn Levi Eschkol sofort zu sich ins Finanzministerium. Zwei Monate nach der Staatsgründung kam ich mit weiteren 4.500 Überlebenden mit dem Schiff nach Israel.
Hinweis der Redaktion: Am 16. März, drei Wochen nach Aufzeichnung dieser Erinnerungen, ist Israel Yaoz im Alter von 89 Jahren gestorben. Einen Nachruf lesen Sie hier. Beide Texte finden Sie auch in der Ausgabe 2/2018 des Israelnetz Magazins.
Aufgezeichnet von mh