In Israel schließen die Wahllokale um 22 Uhr Ortszeit. Dann haben Israels Bürger einen langen Tag hinter sich. Diesen werkfreien Arbeitstag ohne Verdienstausfall, den der Staat für alle Bürger mit einer Gesamtsumme von umgerechnet rund 440 Millionen Euro auffängt, werden die meisten zweifelsohne voll auskosten.
Während Einkaufzentren Kunden mit Sonderangeboten ködern, lockt das Wetter mit moderaten Temperaturen an den Strand. Traditionell sind Kaffeehäuser und Restaurants rappelvoll. Viele arabische Bürger des Landes zieht es allerdings anderswo hin. Schließlich ist gerade Hochsaison der Olivenernte.
Stimmberechtigte
Dieses Mal sind 6,78 Millionen Stimmberechtigte dazu aufgerufen, an diesem freizeitgeprägten Tag einen Abstecher in eines der 11.707 Wahllokale zu unternehmen. Doch von vornherein ist bekannt, dass mehr als 10 Prozent der Stimmabgabe fernbleiben. In Israel müssen Wähler dazu nämlich das vorgeschriebene Wahllokal am gemeldeten Wohnort aufsuchen, weshalb es Wahllokale in Krankenhäusern und Gefängnissen gibt.
Das nützt aber rund 600.000 Israelis nichts. Sie leben im Ausland und können nur wählen, wenn sie extra anreisen. Lediglich Diplomaten und im staatlichen Auftrag im Ausland Verweilenden ist eine Stimmabgabe in doppelten Umschlägen gestattet, die aus logistischen Gründen bereits abgeschlossen ist.
Im Land selbst stimmen mittels doppelten Umschlägen lediglich Personen ab, die bei der Armee dienen. Sie quer durch das Land an ihren Wohnort zu scheuchen, wäre zu aufwendig. Und dennoch sorgen die Notwendigkeit, sich zur Stimmabgabe an den Wohnort begeben zu müssen, und die anvisierten Freizeitaktivitäten dafür, dass auch ohne Berufsverkehr ein hohes Verkehrsaufkommen registriert wird.
Wahlroutine
Es sind die 25. Knesset-Wahlen seit Gründung des jüdischen Staates im Mai 1948. Im Verlauf von 66 Jahren zwischen 1949 und 2015 gab es 20 Wahlgänge zum israelischen Parlament. Seit im April 2019 die 21. Knesset gewählt wurde, verstrichen gerade einmal 44 Monate, die nicht weniger als fünf Wahlgänge brachten.
Rund alle neun Monate den Weg ins Wahllokal zu unternehmen, ist nicht nur rekordverdächtig, sondern lässt Routine aufkommen. Kein Wunder also, dass Spots des Zentralen Wahlkomitees in Radio und Fernsehen die Wähler inständig darum baten: „Du meinst, den Weg in Dein Wahllokal bereits bestens zu kennen? Bitte überprüfe dennoch, wo Du dieses Mal zur Wahl registriert bist.“
Wahlmüdigkeit
Israelis hatten schon bei der vorigen Abstimmung vor anderthalb Jahren das Gefühl, in einer Wahl-Dauerschleife zu stecken, so nach dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Und doch lag die allgemeine Wahlbeteiligung mit fast 70 Prozent in einem durchaus üblichen Rahmen. Das galt allerdings nicht für die Beteiligung der arabischen Bürger, die rund 17 Prozent der Wahlberechtigten stellen. Im März 2021 suchten weniger als 45 Prozent der stimmberechtigten arabischen Bürger die Wahllokale auf. Sie stellten damit einen in Israels Geschichte beispiellosen Negativrekord auf, der, so prophezeiten die Prognosen, dieses Mal sogar noch in den Schatten gestellt werden könnte.
In Anbetracht der fortgesetzten Pattsituation zwischen den beiden großen Parteienblöcken kommt gerade dieses Mal der Wahlbeteiligung eine entscheidende Rolle zu. Das Motto lautet allerseits: Es kommt auf jede einzelne Stimme an. In der arabischen Gesellschaft haben sich einige Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen, um der Bevölkerung zu vermitteln, wie wichtig es ist, sich durch Wahlbeteiligung aktiv in eine Demokratie einzubringen.
Im jüdischen Sektor sind es die Parteien, die jeden einzelnen Wähler zu mobilisieren versuchen. Das hat zur Folge, dass jeder Israeli tagtäglich unzählige Anrufe und SMS-Nachrichten unbekannter Telefonnummern erhält. Viele sind unendlich genervt davon.
Doch dass der israelische Wahlkampf inzwischen schwerpunktmäßig mit modernen Kommunikationsmitteln ausgetragen wird, hat zumindest einen positiven Nebeneffekt: Die Verkehrskreuzungen sind wesentlich weniger mit Plastikwahlplakaten zugepflastert, die später zerfetzt vom Wind durch Straßen wie auch Natur geistern.
Wahlkampfthemen
Wie üblich in Israel schwappten die Töne während des Wahlkampfes hoch. Es war wieder einmal eine kleine Schlammschlacht, bei der es nur am Rand um handfeste, die Wähler bewegende Themen ging. Die Parteien konzentrierten sich beispielsweise auf die hohen Lebenshaltungskosten, doch auch der israelische Dauerbrenner Sicherheitspolitik stand als Wahlkampfthema obenan.
Selbstverständlich gab es weitere Themen, doch letztlich drehte sich der Wahlkampf um etwas ganz anderes: Den Gegner möglichst umfassend zu diskreditieren. So pochte Likud-Chef Benjamin Netanjahu darauf herum, dass die weiter rasant steigenden Preise bei ohnehin unverschämt hohen Lebenshaltungskosten glasklar auf die Verfehlungen der bisherigen Regierung zurückzuführen seien. Diese konterte ihrerseits, dass die prekäre Ausgangssituation selbstverständlich ein Vermächtnis der Netanjahu-Regierungszeit sei.
Und dennoch charakterisierten diesen Wahlkampf zwei Themenkomplexe, die mit den Attributen jüdisch und demokratisch in Zusammenhang stehen und für jeden der Blöcke herhalten mussten, um mit dem anklagenden Zeigefinger auf den Gegner zu deuten. Kommt es zu einer Neuauflage der bisherigen Regierungskoalition, so hieß es, würde das den jüdischen Charakter des Staates Israel gefährden. Erneut eine rechtskonservative Regierung am Hebel der Macht, hieß es von der Gegenseite, gefährdet den demokratischen Charakter des Landes.
Es sind durchaus bedeutsame Fragestellungen des Gleichgewichtes zwischen dem jüdischen und dem demokratischen Charakter des Staates Israel. Sie werden schon seit Jahren hitzig diskutiert und gewinnen an Gewicht, weil zum einen eine arabische Partei mit Bindung an die Islamische Bewegung und zum anderen jüdische Nationalisten mit rechtsradikaler Agenda eine zunehmend wichtige Rolle auf dem Parkett der Knesset spielen. Dieses Mal jedoch sorgten die Parteien dafür, dass aus dieser wichtigen Diskussion ein beschämend inhaltloser ideologischer Schlagabtausch wurde.
Vielfältige Parteienlandschaft
Israelische Wähler stehen nicht nur als Bürger des Staates, als Männer und Frauen mit unterschiedlichen politischen Auffassungen, an der Wahlurne. Bei der Stimmabgabe spielt für viele zudem ihre ethnisch-religiöse Identität eine Rolle. Das reflektieren auch die zur Wahl antretenden Parteien, wie beispielsweise die jüdisch-ultra-orthodoxen Parteien oder die der Islamischen Bewegung des Landes entspringende arabische Partei. Da sich in Israel dieses Mal nicht weniger als 40 Parteien beim Zentralen Wahlkomitee anmeldeten – übrigens ein Allzeitrekord –, darf man sagen: Für jeden sollte etwas dabei sein – was allerdings nicht heißt, dass der Wähler die gewählte Partei auch tatsächlich in der Knesset wiederfindet.
Noch um die Jahrtausendwende waren im israelischen Parlament mit Leichtigkeit 15 Parteien vertreten, was die Regierungsbildung zum Kraftakt werden ließ. Israel setzte im Laufe der verganenen Jahre die Sperrklausel für den Einzug einer Partei ins Parlament hoch. Inzwischen sind 3,25 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen erforderlich, um mit einem Minimum von vier Parlamentariern in die Knesset einzuziehen. Die Prognosen waren sich über Wochen einig, dass sieben Parteien mit Sicherheit in der Knesset vertreten sein werden.
Am stabilsten kommt in dieser Hinsicht der rechtskonservative Block unter Leitung von Ex-Premier Benjamin Netanjahu daher: Diesen Block bildet der Likud im Schlepptau mit dem rechtsaußen stehenden Parteienbündnis der Religiösen Zionisten sowie mit zwei ultra-orthodoxen Parteien. Ihnen stellten die letzten Prognosen vor der Wahl 60 Mandate in Aussicht.
Der andere Block, zu dem sich Parteien sehr unterschiedlicher politischer Zielsetzungen vor dem Hintergrund ihres Nein-zu-Bibi-Bekenntnisses zusammengefunden haben, besteht im Kern aus Jair Lapids Zukunftspartei, der umstrukturierten Partei Blau-Weiß unter Benny Gantz, dem sich Gideon Sa’ars Neue-Hoffnung-Partei anschloss, und Avigdor Liebermans Israel Beiteinu. Gemeinsam bringen sie es laut Prognosen auf 42 Mandate. Doch zu ihnen gesellen sich ebenfalls die Arbeitspartei und die Bürgerrechtspartei Meretz, die zehn Mandate einbringen dürften, allerdings keineswegs sicher sein können, dass sie die Sperrklausel tatsächlich meistern.
Ähnlich ergeht es zwei arabischen Parteien, die als nicht blockgebunden gelten und dennoch zum Anti-Bibi-Block zu zählen sind. Einem Sperrklausel-Zitterakt sehen auch die vielbeachtete Partei Ra’am von Mansur Abbas, die sich der bisherigen Regierung als koalitionstolerierende Partei anschloss, wie auch die gemeinsam antretenden Restparteien der kürzlich aufgelösten Vereinigten Liste, Hadasch und Ta’al, entgegen. Sollte eine der kleineren Parteien des Anti-Bibi-Blocks an der Sperrklausel scheitern, verschiebt sich der von den Prognosen vorhergesagte Gleichstand zwischen den Blöcken zu Netanjahus Gunsten.
Ausblick
Keiner glaubt daran, dass die fünfte Wahl in lediglich dreieinhalb Jahren die politische Pattsituation auflösen wird. Doch auch wenn durch das heutige Wahlergebnis Bewegung in diese Statik kommen sollte, egal zugunsten welches der beiden Blöcke, so blickt Israel zweifelsfrei weiterhin auf eine Regierung, die nur mit einer extrem schmalen Mehrheit regieren kann.
Folglich ist klar, dass die nächste Wahl um die Ecke lauert. Ob das bereits im Mai 2023 anstehen wird, werden wohl schon die ersten Hochrechnungen des Wahlabends zeigen.
Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.
2 Antworten
Ich weiß zwar nichts über das israelische Wahlsystem, aber wenn eine Regierungspartei noch bis zu 8 andere Parteien braucht, um zu Regieren, da frage ich mich was machen da Wahlen noch für einen Sinn?
Ist doch bei uns in D auch nicht anders.