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Islam und Demokratie – ein Gegensatz?

Welches Verhältnis hat der Islam zur Demokratie? Warum existieren bisher unter den islamisch geprägten Staaten kaum Demokratien? Liegt der Grund darin, dass Islam und Demokratie unvereinbare Gegensätze darstellten? Verbietet der Islam die Einführung demokratischer Systeme? Diese Frage ist nicht nur für den Nahen Osten und Nordafrika relevant, sondern auch für Europa, wo Muslime seit über 50 Jahren in demokratischen Gesellschaften leben.
Zweifel an echter Demokratie: Diese ägyptischen Wahlzettel wurden möglicherweise gestohlen.

Muslime nehmen heute zur Demokratie vor allem drei Positionen ein:
1. Eine pragmatische Akzeptanz der Demokratie beziehungsweise ihre Begründung durch eine progressive Islam-Interpretation: Die meisten Muslime leben als friedliche Bürger in westlichen Gesellschaften und schätzen die dortige Rechtsstaatlichkeit, die Freiheitsrechte und die demokratischen Strukturen. Viele ziehen sogar das Leben in westlichen Gesellschaften ihren Herkunftsländern vor. Einige muslimische Intellektuelle und Theologen haben zudem verschiedene Modelle der Vereinbarkeit des Islam mit Freiheits- und Gleichheitsrechten sowie einer Begründung der Demokratie aus dem Islam entworfen.
Einer dieser Vordenker ist der iranische Theologe Mohammed Schabestari (geb. 1936), Philosoph, Reformer und Verfechter von Demokratie, Menschenrechten, Gleichberechtigung der Religionen und Meinungsfreiheit. Er betrachtet Menschenrechte und Demokratie grundsätzlich als von Menschen ersonnene Größen, über die der Koran keine Aussagen mache. Daher widersprächen weder Demokratie noch Menschenrechte dem Islam. Im Gegenteil: Demokratie und Menschenrechte seien lediglich zeitgenössische Umsetzungen der im Koran niedergelegten Prinzipien einer gerechten Herrschaft auf Erden. Schabestari relativiert die – von der klassischen Theologie behauptete – zeitlos gültige Herrschaft der Schariavorschriften, indem er die Willensfreiheit des Menschen betont sowie die Notwendigkeit, dass Glaube freiwillig sein müsse. „Freiheit und Gleichheit“ sieht er in einer Demokratie verwirklicht. [1] Schabestaris Ansatz klingt vielversprechend, allerdings kann er den Mangel einer konkreten Begründung für Menschen-, Frauen- und Freiheitsrechte aus den normativen Texten des Korans und der islamischen Überlieferung nicht beseitigen.
2. Eine ablehnende Position zur Demokratie: Auf dem anderen Ende der Skala befinden sich diejenigen muslimischen Meinungsführer, die die Demokratie als ein von Menschen entworfenes System ablehnen. Sie kontrastieren die Demokratie mit dem – ihrer Auffassung nach – gottgegebenen und daher von Menschen nicht veränderbaren Rechtssystem der Scharia. Sie warnen Muslime in Europa nachdrücklich vor einer Akzeptanz der westlichen Demokratien und vor einer zu weitgehenden Integration. Stattdessen rufen sie Muslime dazu auf, sich abzuschotten und sich ihrer endgültigen Beheimatung in Europa zu verweigern, da Muslime sich unter einer „gottlosen“ Herrschaft niemals zu Hause fühlen dürften. Besonders die in die Schlagzeilen geratenen Salafisten fallen durch ihre lautstarke Ablehnung der Demokratie auf.
Einer der prominentesten muslimischen Theologen, die die Demokratie grundsätzlich ablehnen, ist Abu l-A‘la Maududi (1903-1979), Intellektueller, Ideologe, Buchautor von über 130 eigenen Werken, Verfasser eines einflussreichen Korankommentars, politischer Aktivist und Berater mehrerer pakistanischer Regierungen, der mit seinen Schriften über die „Theo-Demokratie“ und die „Herrschaft Gottes“ maßgeblich Einfluss auf die wichtigsten Führer des politischen Islam wie Sajjid Kutb oder Ruhollah Chomeini nahm. Maududi gilt als der prominenteste Vordenker eines islamisch begründeten Staatswesens, das allein auf der Herrschaft Gottes beruht und jegliche von Menschen verantwortete Staatslenkung verwirft. Gesetze dürfen in dem von Maududi entworfenen, idealen Staat nicht von Menschen gemacht werden, da Gott bereits sein vollkommenes Gesetz, die Scharia, den Menschen gegeben hat. Jede Regierung muss daher alle Gesetze in Übereinstimmung mit der Scharia bringen und jedwede anderen Gesetze abschaffen, auch die Rechtsprechung muss ausschließlich auf Schariarecht gründen. Parteien sind in diesem System unnötig, da die Ausrichtung der Politik bereits durch das Gesetz Gottes vorgegeben ist. Staaten, die dieses Rechtssystem durch ihre Gesetzgebung nicht zur Anwendung bringen, befinden sich nach Maududis Auffassung auf dem Weg in die Gottlosigkeit.
3. Eine Mittelposition, die Demokratie vordergründig bejaht, sie aber letztlich umdeutet: Vertreter dieser Position behaupten, dass die Demokratie nicht im Gegensatz zum Islam stehe, sondern selbstverständlich ein ureigenstes islamisches Anliegen sei, ja, dass der Islam mit der Demokratie deckungsgleich sei. Allerdings begründen sie dann nur Teilaspekte der Demokratie mit dem Islam (wie beispielsweise die Beratung von Machthabern), während sie andere ablehnen, wie zum Beispiel den freien Religionswechsel auch für Muslime.
Damit vereinnahmen und islamisieren sie die Demokratie und deuten sie letztlich um, bis sie in ihren vorgegebenen Deutungsrahmen der islamischen Geschichte und Theologie hineinpasst: alle aus ihrer Sicht nicht mit dem Islam zu rechtfertigenden Aspekte der Demokratie werden nicht als eigentliche demokratische Elemente anerkannt und müssen daher zurückgewiesen werden. Demokratie ist für die Vertreter dieser Position letztlich nur das, was ihrem Anliegen nützt (wie etwa die Freiheit zur Verbreitung des Islam), nicht aber das, was ihrem Rechtsdenken im Schariarahmen widerspricht (wie etwa die Glaubens- oder westliche Pressefreiheit). Dieses umgedeutete Demokratiekonzept ist allenfalls noch ein Bruchstück echter Demokratie.
Einer der Befürworter dieser „Nutzbarmachung“ der Demokratie ist der in Ägypten geborene, seit über 50 Jahren im katarischen Exil lebende, heute wohl berühmteste und als Meinungsführer überaus einflussreiche islamische Theologe Jussuf al-Qaradawi (geb. 1926). Er ist mit der Muslimbruderschaft eng verbunden, veröffentlichte rund 120 Bücher, zahllose Fatwas (Rechtsgutachten), Artikel und Predigten und ist Vorsitzender mehrerer Dachorganisationen muslimischer Gelehrter in Europa. Er tritt regelmäßig in Fernsehsendungen des katarischen Senders „Al-Dschasira“ auf und gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter des islamischen „Minderheitenrechts“, das die islamische Minderheit in Europa dazu aufruft, die Vorteile der Demokratie zu nutzen, sie aber nicht anzuerkennen.

Demokratien auch im Nahen Osten?

Abzüglich etlicher gesellschaftlich-politischer Konfliktfelder wie Vetternwirtschaft und staatliche Willkür, Unterdrückung und Rechtlosigkeit, Misswirtschaft und Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven (besonders für die Jugend) und ein unterentwickeltes Bildungssystem ergeben sich in islamisch geprägten Gesellschaften vor allem dort in Bezug auf die Demokratie Konfliktpunkte, wo das Schariarecht Gesetz, Gesellschaftsordnung und Rechtsprechung prägt. Dort, wo das der Fall ist, wird es keine umfangreichen Freiheitsrechte im Sinne der UN-Menschenrechtscharta von 1948 geben können, denn das Schariarecht kann nach seiner klassischen Auslegung weder Männern und Frauen noch Muslimen und Nichtmuslimen noch Religionswechslern und Atheisten jeweils Gleichberechtigung zubilligen.
So lange die Scharia in ihrer traditionellen, ahistorischen Auslegung in den Universitäten und Moscheen jeglicher Kritik enthoben und weiter als einzig normgebend für das diesseitige Leben und damit auch für die Definition von Menschenrechten betrachtet wird, können liberale oder säkulare Begründungen für die Gewährung umfangreicherer Menschenrechte nur am Rand der Gesellschaft formuliert werden. Es ist daher wohl kaum zu erwarten, dass sich eine grundlegende und umfassende Verbesserung der Menschenrechtssituation und damit die Entwicklung echter, stabiler Demokratien in islamisch geprägten Ländern ergeben, so lange der allumfassende Anspruch der Scharia auf Gesellschaft und Politik nicht von Seiten der offiziellen Vertreter der islamischen Theologie eingeschränkt wird. Oder wie Bassam Tibi formuliert: „Das bedeutet, dass es ohne eine radikale Religions- und Rechtsreform im Islam, für die aufgeklärte Muslime … eintreten, keine Synthese von Islam und Menschenrechten geben wird.“ [2] Besonders unter der gegenwärtigen Regierung in Ägypten sieht es derzeit gar nicht danach aus.
Demnächst erhältlich:
Christine Schirrmacher. Islam und Demokratie – ein Gegensatz? SCM Hänssler.
1 Vgl. etwa seinen Text: Mohammad Mojtahed Shabestari. Demokratie und Religiosität. In: Katajun Amirpur. Unterwegs zu einem anderen Islam. Texte iranischer Denker. Herder: Freiburg, 2009, S. 25-36
2 Bassam Tibi. Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menchenrechte. Piper: München, 1996, S. 45

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