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In der Synagoge zu Hause

JERUSALEM (inn) – Schockiert frage ich: „Wie geht das denn hier zu?!“ – „Wie in einer Judenschul eben!“, antwortet der Rabbiner neben mir schmunzelnd und wendet sich wieder seinem Siddur, dem Gebetbuch, zu.
Jüdische Kinder lesen in einer Torahrolle.

Es ist Schabbat-Vormittag im Jerusalemer Stadtteil Katamon. Die Synagoge bricht aus allen Fugen. In der Luft liegt eine Mischung von unterschiedlichen Parfums, verstaubten Büchern und Schweiß. Durch die geöffneten Fenster weht die trockenwarme Herbstluft. Die meisten Beter wiegen sich in ihre schwarz oder blau gestreiften Gebetsschals gewickelt im Rhythmus des leisen Singsangs. Immer wieder meldet sich der Vorbeter mit lauter, sonorer Stimme zu Wort. Andere fallen ein und singen mit. Nicht Musikalität und Tonalität zählen, sondern Lautstärke, Inbrunst und Inhalt.
Zwischen den Beinen der Erwachsenen sind Kinder unterwegs, suchen Freunde, palavern oder spielen Fangen. Ein Vater setzt sich den Sprössling ins Genick, ohne das Gebet zu unterbrechen. Ein kleines Mädchen quetscht sich zwischen den Blenden zur Frauenabteilung durch, um eine Runde bei den Männern zu drehen. Ihr Bruder begleitet sie auf dem Rückweg zur Mutter, die ihnen durch den Vorhang zugewinkt hat. Inzwischen ist die Lesung des Wochenabschnitts aus der Thora dran. Mit der flachen Hand schlägt der Vorbeter auf das Pult mit der Thorarolle – Bum, Bum, Bum… Der Geräuschpegel sinkt. Mein Nachbar spürt mein Erstaunen und lacht liebevoll: „Weißt Du, das ist der Unterschied: Ihr geht zu Besuch in die Kirche. Wir sind in der Synagoge Zuhause!“
Mir wird klar: Die endlose Wiederholung der alten Texte prägt das Gehirn genauso wie die Geräuschkulisse des Radios oder der ständig eingeschaltete Fernsehapparat. Ich stelle fest, die Worte begleiten mich in den Tag und in die Woche hinein. Eine festgeschriebene Liturgie, die ich täglich herunterleiere, fängt irgendwann an, zu sprechen. Vielleicht nicht beim zehnten, vielleicht erst beim sechzigsten Mal. Immer wieder andere Stellen werden lebendig, ich bleibe daran hängen, lese noch einmal nach, obwohl ich sie schon tausendmal rezitiert habe.
Warum die Synagogen in Israel nicht nur am Schabbat, sondern jeden Morgen und Abend voll sind, verstehe ich nicht wirklich. Dafür, dass das nicht – wie in den christlichen Kirchen – vor allem Frauen, sondern praktisch ausschließlich Männer sind, gibt es eine gesetzliche Erklärung. Aber welcher moderne Mensch hält sich heute noch an Gebote? Und es sind moderne Menschen in den Synagogen: Wissenschaftler, Lehrer, Handwerker, Ärzte, Finanzexperten… Ich kenne orthodoxe Juden, die wissen selbst nicht, warum sie jeden Tag beten, weil sie eigentlich gar nicht an Gott glauben – so behaupten sie jedenfalls.
Aber das jüdische Volk wiederholt seine Gebete Tag für Tag, in Bus oder Bahn, beim Einkauf, in der Warteschlange vor dem Postschalter oder im Flugzeug auf der Geschäftsreise, der Siddur ist immer zur Hand und aufgeschlagen – selbst auf dem Lenkrad im Verkehrsgewühl. Orthodoxe Juden sind ein Volk des Gebets. Dadurch dienen sie Gott. Damit geben sie Gott eine Chance zu reden.
Unsereiner kann über so viel religiösen Wahn natürlich den Kopf schütteln. Vielleicht sind diese Leute aber auch ein Anlass zur Dankbarkeit. Immerhin haben sie durch diese zutiefst von der Bibel geprägte Kultur das Wort Gottes für uns über Jahrtausende hinweg bewahrt.

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