Suche
Close this search box.

„Ich bin Simon aus Jerusalem“

Am Vorabend des 24. April 2015 läutet in der Jakobuskathedrale, im armenischen Viertel der Altstadt Jerusalems, 100-mal die Glocke. Im Gedenken an das Grauen, das an diesem Tag vor 100 Jahren begann und im Gedenken an das Leugnen vieler Völker gegenüber dem an den Armeniern begangenen Unrecht. Neben vielen Armeniern sind auch Israelis gekommen; zwei Knessetabgeordnete sind dabei und einzelne Touristen.
Betont seine armenischen Wurzeln: der 18-jährige Simon Chatchadurian
Der Erzbischof der Armenischen Kirche in Israel, Aris Shirvanian, sagt in der anschließenden Gedenkstunde unter anderem: „Wir erwarten vom Deutschen Bundestag, dass er heute endlich den armenischen Völkermord anerkennt. Das erste Jahrhundert haben wir an das Unrecht erinnert, das zweite Jahrhundert wollen wir beginnen, indem wir Unrecht anerkennen, beim Namen nennen und dadurch verhindern, dass so etwas jemals wieder vorkommt.“ Ori Orhof, Israeli und Hobbyfotograf aus Modi‘in, ist bewegt: „Die Armenier sind unserem Herzen ganz nah. Das, was sie durchgemacht haben, verstehen wir sehr gut und es ist eine Schande, dass unsere Regierung das nicht anerkennt. Nur, weil wir Angst vor den Türken haben.“

Israels Haltung zum Völkermord

Reuven Rivlin hatte als Politiker und Knessetsprecher immer wieder für die Anerkennung des armenischen Genozid geworben. Doch als Staatspräsident ist er an das offizielle Vokabular der israelischen Regierung gebunden. Und so spricht auch er beim Empfang der armenischen Würdenträger in seiner Residenz nicht vom Völkermord, sondern lediglich vom „Massaker“ sowie von der „armenischen Tragödie“. Dabei weiß Rivlin um die Bedeutung der Anerkennung für die Armenier: „Als das armenische Volk 1915 massakriert wurde, sah die Bevölkerung Jerusalems, meine Eltern und andere Familienmitglieder, die armenischen Flüchtlinge zu Tausenden hierher strömen.“ Doch würde Israel den Genozid offiziell anerkennen, stünde das ohnehin schlechte Verhältnis zur Türkei auf dem Spiel.

„Vergissmeinnicht“ – die symbolträchtige Blüte

Zur Gedenkveranstaltung ist auch Simon Chatchadurian gekommen. Wie so viele Armenier an diesem Tag trägt er eine Brosche, die ein vierteiliges Vergissmeinnicht darstellt: Die Narbe der symbolträchtigen Blüte ist schwarz und symbolisiert die Vergangenheit sowie das Leiden des armenischen Volkes. Die fünf hellvioletten Blütenblätter stehen für die Gegenwart und stellen die Einheit der armenischen Gemeinden weltweit dar. Die großen violetten Blätter stehen für die Zukunft und die fünf Kontinente, auf denen Überlebende des Genozids eine neue Heimat gefunden haben. Das dunkle Lila steht für die priesterlichen Gewänder der armenischen Kirche, die „das Herz der armenisch-christlichen Identität“ sind. Um die Narbe sind kreisförmig zwölf Trapeze angeordnet, die die Ewigkeit darstellen sowie die zwölf Säulen des Genozid-Denkmals in der armenischen Hauptstadt Jerewan verkörpern. Die gelbe Farbe steht für Kreativität und Hoffnung. Simon, der junge Armenier aus Jerusalems Altstadt, ist verärgert: „Noch immer wird der Völkermord nicht von allen Ländern anerkannt. Ich hoffe sehr, dass Deutschland den Genozid bald wirklich anerkennt. Und auch Israel. Bis heute passieren Völkermorde auf der ganzen Welt und solange der armenische Völkermord nicht anerkannt wird, wird es weiter Genozide geben. Ich wünsche mir, dass in deutschen Schulen über den Völkermord aufgeklärt wird. Sie sollen wissen, warum es in der ganzen Welt Armenier gibt. Auch armenische Kunst und Kultur sollten deutsche Schulen lehren. Junge Menschen sollten lernen, was damals wirklich geschah.“

Die Geschichte der Familie Chatchadurian

Simons Urgroßvater väterlicherseits ist vor etwa 100 Jahren nach Israel ausgewandert. Bereits 1909, sechs Jahre vor der offiziellen Datierung des Beginns des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich, „gab es unter den Türken Gefahr“, erzählt Simon. „Armenier wurden verfolgt. Mein Urgroßvater hatte die Gelegenheit, hier in Jerusalem in der Altstadt im griechischen Patriarchat als Maler angestellt zu werden. Er war ein sehr bekannter Maler und hatte an der Kunstakademie in Istanbul studiert. Bilder von ihm sind im armenischen und im griechischen Patriarchat ausgestellt. Sein Name war Aram Chatchadurian, so wie der berühmte sowjetische Komponist.“ Simon lächelt stolz. „Sein Name wird ein bisschen anders geschrieben, aber eigentlich ist er der gleiche. Er kommt aus dem Türkischen, von ‚haschaduri‘, genau weiß ich es nicht. Wir haben den Namen armenisiert, ‚chatch‘ bedeutet Kreuz und ‚dur‘ geben, der Chatchadurian ist der ‚Kreuzverleiher.‘“ Während Simon erzählt, läutet im Hintergrund die Glocke der armenischen Patriarchalkathedrale. Vögel fliegen zwitschernd in den Altstadtmauern umher.

„Armenier leben in der ganzen Welt“

Die armenische Gemeinde in Jerusalem ist die älteste außerhalb Armeniens. In ganz Israel leben zwischen 3.000 und 5.000 Armenier. Simon ist einer von ihnen, doch auch er kennt keine genauen Zahlen: „In der Altstadt von Jerusalem gibt es vielleicht 90 armenische Familien, in Israel leben weniger als 3.000 Armenier.“ Der junge Mann mit der blassen Haut, den dunklen Haaren und der schwarzen Hornbrille sitzt auf Mauerresten im Armenischen Viertel und erzählt: „Viele sind aufgrund der politischen Lage ausgewandert. Sie leben jetzt in den USA, wo es eine große armenische Gemeinde gibt, in Australien, Kanada oder Europa. Das ist besser für sie.“

Simon, Armenier aus der Altstadt

Simon ist im armenischen Viertel der Jerusalemer Altstadt aufgewachsen und vor wenigen Wochen 18 Jahre alt geworden. Etwa ein Jahr zuvor hat er sein Abitur an der armenischen Schule abgelegt. Dort hat er auch Hebräisch und Arabisch gelernt. „Zu Hause sprechen wir Armenisch, manchmal auch etwas Bulgarisch, zum Beispiel mit meiner Tante. Sie und meine Mutter stammen aus Bulgarien, aber im Gegensatz zu meiner Tante hat meine Mutter dort eine armenische Schule besucht. Sie spricht besser Armenisch, war aber noch nie in Armenien. Meine Tante spricht auch Armenisch, aber das ist gebrochen und daher verständigt sie sich lieber auf Bulgarisch mit uns.“ Simon spricht fließend Deutsch und wählt seine Worte behutsam: „Mein Bruder Harut spricht viel Hebräisch, er arbeitet in einem hebräischen Umfeld. Als Kinder haben wir viel deutsches Fernsehen geschaut und wenn wir nicht wollten, dass unsere Eltern oder unsere kleine Schwester uns verstehen, haben wir uns auf Deutsch verständigt. Das war unsere Geheimsprache. Ich spreche Deutsch, seit ich vier bin.“ Die beiden jungen Männer verbessern gegenseitig ihre Fehler: „Das heißt nicht ‚Ich habe in die Schule gelernt‘, sondern ‚Ich habe in der Schule gelernt‘“. Simon schaut seinen Bruder streng an, dessen kleiner Fehler scheint ihm peinlich zu sein. Harut sitzt im Rollstuhl, er hat CP, eine Form von Kinderlähmung. Simon erzählt: „Mein Vater hat sieben Jahre in Armenien Geschichte und Archäologie studiert. Dort hat er auch Russisch gelernt, weil Armenien damals zur Sowjetunion gehörte.“ Heute ist Aram Chatchadurian Touristenführer, außerdem lehrt er die Studenten des armenisch-theologischen Seminars. „Meiner Schule bin ich sehr dankbar, dass sie uns beigebracht haben, was es bedeutet, Armenier zu sein. Wir haben über unsere Geschichte, Kunst und Kultur gelernt. Und über alles, was zu uns gehört.“ Das armenische Erbe bedeutet Simon viel: „Früher bin ich mehrmals wöchentlich in den Gottesdienst gegangen, heute meistens nur noch einmal. Die Mehrheit der Gottesdienstbesucher sind ältere Menschen. Ich wünsche mir sehr, dass auch die jüngere Generation mehr in den Gottesdienst kommt. Wir haben eine so schöne armenische Liturgie. Sie ist sehr alt und wird so verwendet wie früher in Europa das Latein.“ Simon ist die Liebe zu seiner Kultur abzuspüren: „Wir jungen Armenier treffen uns in der Schule, im Kloster und bei den Pfadfindern. Ich war auch etwa zehn Jahre Teil der Pfadfinder, aber heute mache ich bei den Trommelumzügen nicht mehr mit. Meine Ohren halten das nicht aus.“ Simon zeigt auf seine Ohren und lächelt dann: „Doch vor zwei Jahren war ich mit den Pfadfindern für zwei Wochen in Armenien. Dort haben wir alle sehenswerten Orte besucht, unter anderem das Genozid-Museum, dieses komische Gebäude.“ Er macht eine umständliche Handbewegung, um die Form des Museums anzuzeigen. „Durch den Genozid gibt es Armenier in der ganzen Welt. Meine Familie hat Verwandte in Bulgarien, in der Schweiz. In Armenien haben wir viele Bekannte, aber keine Verwandten. Auch wenn wir teilweise unterschiedliche Wörter benutzen, können wir uns gut mit Armeniern aus Armenien verständigen. In unserer Sprache gibt es viele türkische Wörter, weil wir aus Westarmenien stammen, aber die armenischen Staatsbürger benutzen russische Wörter.“ Simon beschreibt die Situation der Armenier weltweit: „Armenier in der Diaspora haben sich eine neue Heimat aufgebaut und auch wenn sie sich als Armenier definieren – solange sie nicht in Gefahr sind, gibt es keinen Grund für sie, nach Armenien zurückzukehren.“ Nach einer kurzen Pause erzählt der junge Mann mit den ernsten Gesichtszügen weiter: „Als Armenier in Israel fühle ich mich schon anders, als wenn ich in meinem eigenen Land leben würde. Juden sind diskriminierend. Oft gucken sie einen an und fragen ‚Was ist Armeni‘? Sie wissen nicht, wer ich bin und zeigen mir dann: ‚Du bist keiner von uns.‘ Mein Bruder arbeitet mit Israelis zusammen, er kann ein Lied davon singen.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt Simon: „Aber es gibt auch gute, weltoffene Juden. Die denken anders. Palästinenser sind sehr freundlich und willkommen heißend. Israelis dagegen sind“, er sucht nach einem Wort und benutzt dann das hebräische „chutzpanim“. Das deutsche Wort Chutzpe kommt von diesem Wort und bezeichnet eine freche Unbekümmertheit, die Israelis nachgesagt wird. Simon fasst zusammen: „Insgesamt können wir in Israel aber gut leben und man passt sich an.“ Sich anzupassen haben Armenier im vergangenen Jahrhundert schmerzhaft lernen müssen. Sie wollten nicht auffallen und auch wenn sie unter sich bleiben wollen, sprechen viele von ihnen mehrere Sprachen fließend.

Deutsch ist meine Herzenssprache

Wenn Deutsche nach Jerusalem kommen, sollten sie sich auf jeden Fall die Jakobskathedrale, die Hauptkirche des Patriarchats, anschauen. „Wir haben leider im Kloster keine offiziellen Öffnungszeiten, sodass Touristen nicht einfach so dort reinschauen können. Doch in Begleitung eines Armeniers können sich Besucher die schöne Kirche anschauen und so nutze ich jede Gelegenheit, meinen deutschen Freunden das armenische Kloster zu zeigen. Dort gibt es viele schöne Dinge und es wäre schade, wenn sie nach Deutschland zurückkehren würden, ohne das gesehen zu haben.“ Wenige Wochen nach seinem Abitur am armenischen Gymnasium hat Simon am Goethe-Institut in Jerusalem die Prüfungen zur deutschen Fachhochschulreife erfolgreich absolviert. Damit ist er an deutschen Hochschulen studienberechtigt. Obwohl Simon noch nie in Deutschland war, sagt er überzeugt: „In der armenischen Sprache fühle ich mich am meisten zu Hause. Aber gleich danach kommt Deutsch. Und erst danach Englisch. Englisch kann ich gut, aber Deutsch ist meine Herzenssprache. Mit der deutschen Sprache bin ich aufgewachsen und ich trage die deutsche Kultur im Herzen. So wie die armenische Kultur auch. In Armenien ist es auch schön, aber die wirtschaftliche Lage ist nicht so stabil und es gibt viele Skandale. Deshalb würde ich gern in Deutschland leben.“ Auf die Frage nach seinem deutschen Lieblingsschriftsteller murmelt Simon leise vor sich hin: „Nee, der ist Schweizer“. Dann fragt er laut: „Kann ich auch nen Schweizer nennen? Ich mag Dürrenmatt. Und Erich Kästner.“ Und ihm fällt noch ein: „Achso, und Thomas Mann habe ich auch gelesen.“ Sigmund Freud und Immanuel Kant, die prominent in seinem Bücherregal stehen, erwähnt er erst auf Nachfrage. Auf seinem Schreibtisch liegen mehrere Ausgaben des Magazins „Der Spiegel“. Werden Armenier aus der Altstadt auf den jungen Mann angesprochen, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: „Der Simon ist ein guter Kerl. Er ist sehr intelligent und repariert die Computer aus dem ganzen Viertel. Wenn ich ein Problem mit dem Rechner habe, rufe ich Simon an und er löst es sofort.“ Vom Friedhofswächter bis zum Keramikhändler sind sich alle einig: „Simon? Ohne den wüsste ich nicht, was ich machen sollte.“ Was Simon gern einmal beruflich machen würde? „Am liebsten würde ich einen kleinen Elektronikladen eröffnen.“ Vorerst studiert Simon an der Open University of Israel Mathematik, Geschichte und Physik. Der Unterricht ist auf Englisch. Anschließend möchte er gern einen Bachelor an der Hebräischen Universität absolvieren, deshalb lernt er zurzeit noch Hebräisch für Fortgeschrittene. Zum Masterstudium würde er gern nach Deutschland gehen. Wie er sich dort den Leuten vorstellen würde? „Ich bin Simon aus Jerusalem. Ich bin Armenier und im armenischen Viertel aufgewachsen. Ich gehöre zur armenisch-apostolischen Kirche.“ (mh)

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen