„Eigentlich bemerkenswert ist die Gewaltlosigkeit, die diese Massendemonstration kennzeichnet.“ Nachi Alon macht aus seiner linken politischen Einstellung keinen Hehl. Trotzdem ist der klinische Psychologe beeindruckt von der Organisation, der Kommandostruktur, der Disziplin und dem Willen zur Gewaltlosigkeit der großteils orthodoxen Juden, die zu Tausenden angetreten sind, um mit den Füßen dem Rückzugsplan Ariel Scharons eine Absage zu erteilen.
Gemeinsam mit seinem Kollegen, Professor Chaim Omer von der Universität Tel Aviv, bemüht sich Alon, den Gedanken eines gewaltlosen Konfliktmanagements in Israel bekannt zu machen – ursprünglich in Familien und Schulen, jetzt auch im Konflikt zwischen Abzugsgegnern und dem Staat Israel. Dadurch will Nachi Alon das seit Monaten allgegenwärtige Gespenst eines blutigen Bruderkrieges vertreiben. Die Atmosphäre innerhalb der israelischen Gesellschaft ist aufs Äußerste gespannt. Immerhin sollen Menschen ihre Häuser verlassen, in denen sie teilweise in der dritten Generation leben.
Chaim Omer hat alle Kommandoebenen in Polizei und Militär erreicht und zeigt sich erstaunt darüber, dass Organisationen, die „alle Macht in Händen halten“, bereit sind, zu lernen. Nachi Alon hat sich um die andere Seite bemüht, jüdische Siedler und Abzugsgegner. Offensichtlich wurde er dort nicht mit offenen Armen empfangen. Aber er fand offene Ohren – und eine weit reichende Kenntnis über gewaltlosen Widerstand, die er nicht erwartet hatte. Immerhin nennt die als rechtsextrem verschriene „Feiglin-Gruppe“ innerhalb des Likud Mahatma Ghandi als eines ihrer Vorbilder.
„Teilt eure Wassermelone mit den Soldaten und appelliert an ihre jüdische Seele!“, skandieren Lautsprecherwagen überlaut, während sie sich durch die von der Farbe Orange dominierte Menge aus Männern, Frauen und Kindern quälen. Drei Tage und zwei Nächte zuvor hatten sie sich zu Zigtausenden am Grab des Rabbi Baba Sali in der Negevstadt Netivot versammelt. Eigentlich wollten die Sicherheitskräfte sie schon dort festsetzen. Aber im Schutz der Nacht zerstreuten sich die Demonstranten über die Felder und marschierten am Tag darauf nach Kfar Maimon, einer kleinen landwirtschaftlichen Siedlung. Ihr erklärtes Ziel ist der Siedlungsblock „Gusch Katif“ im Gazastreifen, der nach den Plänen der Regierung Scharon Mitte August geräumt werden soll.
In den israelischen Medien werden die Anti-Abzugsdemonstranten kurz „Mitnachalim“, Siedler, genannt. Tatsache ist, dass der Massenprotest vom Rat der jüdischen Siedlungen in Judäa, Samaria und dem Gazastreifen, kurz „Jescha-Rat“, organisiert wird und in Kfar Maimon begegnet man auch Leuten, die aus Efrat, Talmon, Eli und Rechelim stammen. Aber die überwiegende Mehrzahl der Abzugsgegner kommt aus allen Teilen Israels, von Zefat im Norden bis Be´er Scheva im Süden, aus Ramat Gan, Rosch Ha’Ajin, Jerusalem und Bnei Brak.
In Kfar Maimon, wenige Kilometer vor dem Ziel, ist es den 20.000 israelischen Polizisten und Soldaten endlich gelungen, die Protestwanderer festzusetzen. Berichte in den Medien reden von einem Belagerungszustand. Aber wenn man sich Kfar Maimon nähert, sind Polizisten und Demonstranten gemeinsam unterwegs, reden miteinander, genießen gemeinsam das kitschig orangene Wassereis. Am Westrand von Kfar Maimon, das wie alle Grenzsiedlungen von einem Zaun umgeben ist, meine ich endlich, die „Front“ erreicht zu haben. Aber dann taucht auf der anderen Seite, inmitten der Sicherheitskräfte eine Siedlerfamilie auf, die sich verhält wie bei einem gemütlichen Sabbatspaziergang.
Gegen Abend versammelt sich die Masse der Demonstranten auf dem Platz vor der Synagoge. Die Schätzungen schwanken je nach propagandistischer Absicht zwischen 10.000 und 50.000. Über unseren Köpfen kreist ein Polizeihubschrauber. Die Menge skandiert: „Wir lieben dich, Zahal!“ „Zahal“ ist die israelische Armee. Plötzlich wird es still. Alle wenden sich zum Abendgebet in Richtung Jerusalem. „Wir haben gesündigt! Wir haben gefehlt!“, bekennen diejenigen ihrem Gott gegenüber, die sich ihrer Gesellschaft und der Welt gegenüber unnachgiebig und unbeugsam zeigen.
Auf der improvisierten Bühne erklären die führenden Rabbiner nicht nur, dass der Gusch Katif das unverrückbare Ziel ist und rufen unermüdlich zur Gewaltlosigkeit auf. Es wird auch der Text aus dem Propheten Sacharja verlesen, aus dessen Umfeld das Wappen des Staates Israel stammt: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen“ (Sacharja 4,6). „Der Herrscher der Welt hat uns hierher gebracht ins Land Israel“, erklärt Rabbi Chaim Druckman, Leiter der einflussreichen Beni-Akiva-Talmudschulen. Im Blick auf die Zukunft zeigt er sich zuversichtlich: „Der Ewige wird seinen Teil tun!“, um dann aber anzumahnen: „Aber wir müssen tun, was an uns liegt, was unsere Aufgabe ist.“
Am nächsten Morgen geschieht nach einer Nacht spannungsvoller Verhandlungen endlich das, was die israelischen Medien tagelang herbeizuberichten suchten: Der Großteil der Demonstranten macht sich auf den Heimweg. Der Grund dafür war, dass Polizeichef Uri Bar-Lev offen mit dem Einsatz von Schusswaffen drohte. Und Blutvergießen wollen diejenigen, die so oft der Gewaltbereitschaft verdächtigt werden und ihre Waffen ganz offen zur Schau tragen, denn doch nicht in Kauf nehmen.
Damit ist der Konflikt zwischen bibeltreuen Nationalisten und friedenssüchtigen Säkularen aber noch lange nicht beigelegt. Professor Chaim Omer betont: „Unser Spezialgebiet ist nicht die Konfliktlösung, sondern das Konfliktmanagement. Dieser Konflikt wird noch lange nicht gelöst sein.“ Und Nachi Alon weiß: „Gewaltfrei bedeutet nicht schwach oder machtlos. Totalitäre Regierungen wurden gewaltlos gestürzt. Gewaltfrei bedeutet auch nicht nett oder liebevoll. Gewaltlose Kampfführung kann sehr hässlich sein. Vor allem aber bietet sie neue Optionen, die bei weitem effektiver und kostengünstiger sind als Gewaltanwendung.“
Mit der Propagierung gewaltlosen Widerstandes will sich Alon aber keinesfalls mit den Zielen der Rückzugsgegner identifizieren. Viele Israelis werfen ihnen vor, sie gefährdeten die Demokratie, weil sie als Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwingen wollten. Der klinische Psychologe betont: „Gewaltloser Widerstand ist nicht automatisch ungefährlich.“ Auch wenn der Widerstand unter Leitung des Jescha-Rates den Rückzug aus Gaza und Nordsamaria nicht mehr verhindern kann, sehen Befürworter wie Gegner den jetzt geplanten Rückzug doch als Präzedenzfall, dem weitere Räumungen folgen werden. Und die härtesten Gegner einer Abgabe von Gebieten an die Palästinenser sitzen nicht in diesen Siedlungen, sondern im Westjordanland, dem biblischen Judäa und Samaria.
(Foto: Johannes Gerloff)