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Grenzen des Rechts auf Selbstverteidigung – Überlegungen zu Israels Praxis der gezielten Tötung

Nach fast zwei Stunden geben wir auf. Brummend kreisen über dem Flüchtlingslager im Süden von Gaza-Stadt die unbemannten israelischen Beobachtungsflugzeuge. Wieder einmal ist ein Gesprächstermin mit Scheich Ahmed Jassin, dem geistlichen Vater der radikal-islamischen Hamas-Bewegung, geplatzt. Zu groß sei die Gefahr, dass unser Besuch seinen Aufenthaltsort verrät, erklärt Sa´ad, der beim Radio der Hamas arbeitet. Seit Monaten hängt das Damoklesschwert der israelischen Luftwaffe über jedem führenden Hamas-Mitglied.

Das war im Januar 2004. Am 22. März wird der gebrechlich wirkende Scheich, dessen Wort den Tod von Hunderten von Menschen entschieden hat, von israelischen Raketen aus dem Rollstuhl geschossen. Kaum einen Monat später ereilt seinen Nachfolger, den Kinderarzt Dr. Abdel Asis Rantisi, dasselbe Schicksal. Auf den Straßen von Gazastadt toben die Massen. Die Hamasführung gelobt blutige Rache. Israelische Sicherheitskräfte verstärken ihre Vorkehrungen und aus der ganzen Welt treffen die üblichen Verurteilungen dieser außergerichtlichen Exekutionen ein. Diplomaten und Politiker geißeln sie als illegal, abscheulich, unrechtmäßig, ungerechtfertigt und kontraproduktiv. Nur Amerika schweigt.

Gewiss, wer sich rechtsstaatlichen Maßstäben verpflichtet weiß, darf es grundsätzlich nicht gut heißen, wenn Menschen ohne ordentliches Gerichtsverfahren getötet werden. Darüber lässt sich (zum Glück!) nicht diskutieren: Auch dem schlimmsten Verbrecher muss eine faire Verteidigung gewährleistet werden. Aber ist die Beurteilung Europas des israelisch-palästinensischen Konflikts wirklich angemessen, wenn ständig der Refrain von einer „Spirale der Gewalt“ erklingt? Übersehen die Nahostexperten im Abendland, dass es hier seit langem um ganz gezielte Aktionen von Hetze, Gewalt und Gegengewalt geht? Vergessen sie die Entwicklung des hinter uns liegenden Jahrzehnts?

Als im September 1993 die Abkommen von Oslo verabschiedet wurden, verkündete die Hamas, sie werde „niemals an diesem Spiel teilnehmen“. Wenig mehr als ein halbes Jahr später explodierte im April 1994 der erste von mittlerweile mehr als hundert Selbstmordattentätern. Ein Jahrzehnt der Gesprächsbereitschaft Israels ist genauso gescheitert, wie eine Vielzahl von Bemühungen, den palästinensischen Bombenattentaten Einhalt zu gebieten. Wenn Israel auf Anschläge, wie beispielsweise den auf die Tel Aviver Diskothek „Dolphinarium“ im Juli 2001, nicht mit Gegengewalt reagiert hat, um dem Verhandlungsweg eine Chance einzuräumen, wurde das von palästinensischer Seite schlicht ignoriert und von der Weltöffentlichkeit schnell vergessen, wenn überhaupt wahrgenommen. Erst als letzten Ausweg nahm die israelische Regierung die totale Kriegserklärung der Hamas an und beantwortet sie jetzt mit einem totalen Vernichtungskrieg gegen die militanten Sunniten. Zu keinem Zeitpunkt hat die Hamas je ihr Ziel einer totalen Vernichtung des jüdischen Staates Israel in Frage gestellt.

Mit Berufung auf Artikel 51 der UN-Charta betont Israel, dass nach internationalem Recht kein Staat dazu verpflichtet sei, bewaffnete Angriffe passiv hinzunehmen. Als Ausnahme sei eine gezielte Tötung von „tickenden Bomben“ erlaubt, wenn keine andere Möglichkeit besteht, blutige Anschläge auf die eigene Zivilbevölkerung zu verhindern. Gerade auch durch die beständige Weigerung der Palästinenser, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen, Terroristen zu verhaften und Terror-Organisationen zu zerschlagen, sieht sich Israel zu den außergerichtlichen Hinrichtungen gezwungen, nachdem 1.000 Männer, Frauen und Kinder getötet und Tausende für ihr Leben verstümmelt wurden. Obwohl die Praxis auch innerhalb der israelischen Gesellschaft heftig diskutiert wird, befürworteten doch 85 Prozent der Israelis den Abschuss Rantisis.

Weder Bestrafung noch Vergeltung noch Racheakt sollen die gezielten Tötungen sein. Israel will sie als Präventivmaßnahmen zur Verhinderung weiterer Anschläge auf israelische Zivilisten verstanden wissen. Zu den Vorgaben der Militärs gehören, dass immer zuerst alle anderen Möglichkeiten, einen Anschlag zu verhindern, ausgeschlossen sein müssen, und dass unschuldige Palästinenser soweit irgend möglich geschützt werden. Die Festnahme der Hamas-Führer, die von Israel abgeschossen wurden, und der dazu nötige Einmarsch in den Gazastreifen hätte mit Sicherheit bei weitem mehr Menschenleben auf beiden Seiten gefordert. Dass bei der Tötung des militärischen Chefs der Hamas, Salah Schehadeh, im Juli 2003 fünfzehn weitere Palästinenser ums Leben kamen, wird von israelischen Militärexperten als moralischer Fehler gewertet, der auf nachrichtendienstliches Versagen zurückzuführen ist. Allerdings wird es auch künftig einem Terroristen aus israelischer Sicht keine Immunität verleihen, wenn er sich unter der Zivilbevölkerung versteckt.

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