GAZA (inn) – Es ist das erste Pressegespräch, das Jahja Sinwar, seit 2017 Chef der islamistischen „Widerstandsbewegung“ Hamas in Gaza, gibt. Etwa vierzig Journalisten aus aller Welt sind der Einladung zum Gespräch mit dem Hamas-Chef gefolgt. Bisherige Anfragen internationaler Medien wurden abgelehnt. Dass er sich nun doch den Journalisten stellt, erklärt Sinwar so: „Wir leben in einer entscheidenden Zeit. Und Sie als Pressevertreter können der Welt mitteilen, wie es in Gaza aussieht.“
Dass die Journalisten erst zwei Stunden nach dem vereinbarten Termin in sein Büro gekommen sind, scheint Sinwar nicht aus der Ruhe zu bringen. Schwer bewaffnete Sicherheitsleute sichern das Gebäude und das umliegende Gelände ab. Die Journalisten bekommen zwei Minuten, um Fotos zu schießen. Danach werden ihnen alle elektronischen Geräte abgenommen. „Ich persönlich mag keine Kameras, auch deswegen lade ich euch zu einem Gespräch ohne Fotoapparate, Kameras, Handys und Aufnahmegeräte ein“, sagt Sinwar. „Vielleicht seid ihr auf diese Weise auch besser in der Lage, die Situation in Gaza einzuordnen und von hier zu berichten.“ Möglicherweise ist es auch diese Scheu vor Fotoapparaten, die Sinwar in der Weltöffentlichkeit zu einem fast Unbekannten macht. Selbst in Israel kennen viele seinen Namen nicht. Von israelischen Analysten wird er oft als militanter Hardliner bezeichnet.
Seine Gäste begrüßt Sinwar im Empfangsraum bei bereitgestelltem arabischem Kaffee und Gebäck freundlich-distanziert auf Arabisch. In Sinwars Wesen liegt etwas Unbeugsames und Bestimmtes. Neben den Journalisten sind etwa 25 Hamas-Mitarbeiter und Aktivisten anwesend. Sinwar sitzt mit seinem Dolmetscher und einem weiteren Mitarbeiter hinter einem großen Schreibtisch. Über ihm ist ein riesiges Hochglanzfoto von Jerusalem zu sehen, das einen Blick vom Ölberg auf Al-Aqsa-Moschee und Felsendom sowie auf die Altstadt zeigt. Die neuen Gebäude der Jerusalemer Weststadt belegen die Aktualität des Fotos. An den Seiten sind zwei palästinensische Flaggen aufgestellt sowie große runde Embleme, die das Symbol der Hamas abbilden. An den Wänden hängen auf großen beleuchteten Glasflächen gedruckte Bilder des Hamas-Gründers Ahmad Jassin sowie des islamistischen Predigers Izz ad-Din al-Qassam, nach welchem der militärische Flügel der Hamas benannt ist.
Sinwars Dolmetscher übersetzt das Gespräch ins Englische: „Wir schätzen die wichtige Arbeit, die Sie tun. Im Nahen Osten werden Sie auch die vierte Autorität genannt.“ Sinwar spricht von seiner Enttäuschung, dass so viele Journalisten „auf israelischer Seite“ stünden. „Wir wollen friedliche Märsche, doch viele Medien haben den israelischen Narrativ übernommen. Wir fordern gar nicht, dass Sie auf unserer Seite stehen, aber wir wollen von Ihnen neutrale Berichte.“ Sinwar beschreibt die Lage im Gazastreifen: Die Jugend habe keine Hoffnung mehr. „Unsere Situation ist ungerecht und wir sind permanent unterdrückt. Doch wir, die Menschen von Gaza, sind stark und widerstandsfähig.“
Künftige Ereignisse wegweisend
Neben der allgemeinen Lage in Gaza möchte Sinwar mit den Journalisten auch über die Ereignisse der kommenden Tage reden. Seit Ende März findet allwöchentlich der „Marsch der Rückkehr“ an der Grenze von Gaza zu Israel statt. Für den 14. und 15. Mai sind weitere Märsche geplant. Auf den 14. Mai ist die Botschaftsverlegung der USA von Tel Aviv nach Jerusalem terminiert, am 15. Mai begehen die Palästinenser den 70. Gedenktag an die „Nakba“, die „große Katastrophe“, wie sie die Staatsgründung Israels bezeichnen. Sinwar macht deutlich: „Niemand, weder ich noch einer der anderen politischen Führer, kann absehen, was am 14. und 15. Mai passieren wird.“ Doch die Art der Ereignisse zu Beginn der kommenden Woche werde für die Zukunft der Region ausschlaggebend sein. „Die Protestmärsche können wir nicht stoppen. Wir unterstützen sie, vielleicht führen wir sie sogar an.“
Sinwar wiederholt sich öfter, betont mehrfach, dass die Palästinenser ein unterdrücktes Volk seien. Die kommenden Proteste seien daher mit der Situation „eines eingesperrten Tigers“ zu vergleichen, „der wild in alle Richtungen rennt“. Niemand wisse, in welche Richtung er gehen und wie er sich verhalten werde. Die Besatzung der „Zionisten“ sei ein großes Übel und müsse durchbrochen werden. Den Nachbarstaat Ägypten erwähnt er mit keinem Wort.
Zwei Drittel der Bewohner des Gazastreifens sind Nachkommen von Arabern, die 1948 in der Zeit um die Staatsgründung Israels aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina geflohen sind. Diese ruft die Hamas nun auf, zurück in ihre Häuser zu gehen. Der Zaun zu Gaza sei keine Grenze, denn der „zionistische Feind hat seine Grenzen noch nie deutlich gemacht“. Deshalb „ist die Grenze auch kein Tabu und keine Heilige Kuh. Wo liegt eigentlich das Problem, wenn Zehntausende oder auch Hunderttausende Palästinenser diesen Zaun nach Israel stürmen würden?“
Sinwars Rede ist gut vorbereitet. Er sagt Sätze wie: „Der Gazastreifen ist eine tickende Zeitbombe, die jederzeit losgehen kann“ und „Wir ziehen vor, auf ruhige Weise um unsere Rechte zu kämpfen, doch wenn man uns dazu zwingt, werden wir auch andere Mittel anwenden“. Er vergleicht die Beziehung der Menschen in Gaza zu den Israelis mit der eines israelischen Sicherheitshäftlings: „Wir haben uns erhoben, um an die Gefängniswand zu schlagen und zu verdeutlichen, dass wir nicht akzeptieren, langsam dahinzusiechen. Wir wollen uns für bessere Lebensbedingungen einsetzen.“
Wenn Sinwar diesen Vergleich benutzt, weiß er, wovon er spricht, denn er selbst war mehr als 25 Jahre in israelischen Gefängnissen für Entführungen und den Mord an israelischen Soldaten inhaftiert. Bei einem Gefangenenaustausch 2011 mit Israel kam er frei. Nun spricht er mehrfach aus: „Israelische Sicherheitshäftlinge haben keine Rechte. Wir mussten damals in den Hungerstreik treten, um einfache Dinge zugestanden zu bekommen, wie beispielsweise einen Stift oder ein Notizbuch.“ Trotzdem sei das Leben in den israelischen Gefängnissen teilweise leichter erträglich gewesen als das der Bewohner von Gaza. Sinwar ist überzeugt: „Die einzigen Gespräche zwischen Palästinensern und Israelis finden zur Zeit in den Gefängnissen statt.“
„Unsere Proteste stellen keine Bedrohung dar“
Auch bei den Fragen der Journalisten bleibt Sinwar ruhig. Etwa, als ein amerikanischer Journalist nach dem Verbleib der vielen Hilfsgelder fragt und warum diese nicht in in den Häuserbau der Zivilbevölkerung gesteckt würden, sondern vielmehr in Raketen und Tunnel. Sinwar lächelt kaum merklich. Er ist bestimmt, als er antwortet: „Als Journalist müssen Sie natürlich so fragen, doch aus Ihrer Frage verstehe ich, dass Sie parteiisch sind. Ich versichere Ihnen aber, dass nicht ein einziger Dollar, der für humanitäre Zwecke gespendet wurde, in die militärischen Ausgaben der Hamas ging.“
Die Verantwortung für den Ausgang der aktuellen Protestmärsche sieht Sinwar bei den Israelis: „Viel wird an der Reaktion der Besatzer liegen, denn unsere Leute am Zaun stellen für niemanden eine Bedrohung dar.“ Er spricht von durchgehend friedlichen Demonstranten: „Viele der Demonstranten gehören militärischen Einheiten an und wissen Waffen zu gebrauchen. Doch sie entschieden sich, sie niederzulegen, um friedlich zu protestieren.“ Gleichzeitig sagt er selbstbewusst, dass die Hamas-Führer bereit seien, gemeinsam mit den Demonstranten ihr Leben zu geben.
Kein Wort sagt er zu brennenden Autoreifen an der Grenze, fliegenden Feuerdrachen nach Israel oder auf Soldaten gerichtete Steinschleudern. Die Israelis haben mehrfach deutlich gemacht: Die Armee wird Israels Grenze verteidigen – wer versucht, den Zaun zu überqueren oder zu beschädigen, muss mit Geschossen rechnen, nach ignorierten Warnungen auch mit harter Munition. Seit Ende März gibt es auf palästinensischer Seite Tausende von Verwundeten und nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza 53 Tote.
Nach mehr als zwei Stunden bleibt für Nachfragen keine Zeit mehr. Die meisten Journalisten fahren zurück nach Israel. Auf dem Weg zum Grenzübergang werden sie auf Schritt und Tritt von Hamas-Leuten begleitet. Sinwars Worte klingen schal nach: „Unsere Ziele wollen wir mit friedlichen Mitteln erreichen“ und „Wir sind Freiheitskämpfer, keine Terroristen“. Seiner Aussage nach sollten die geplanten Märsche weniger blutig werden und ohne „dass es zu einer großen Zahl von Märtyrern und Verwundeten kommt“. Doch Tatsache ist, dass jeder tote Palästinenser, der der Weltpresse präsentiert werden kann, für die Hamas einen Sieg darstellt. Denn im Gegensatz zu dem jetzigen Hamas-Chef in Gaza sind die Angehörigen der toten Demonstranten alles andere als kamerascheu.
Von: mh