JERUSALEM (inn) – In ungewohnter Stille haben viele Juden in Israel den diesjährigen Seder-Abend erlebt. Wegen der Corona-Krise hatte die Regierung eine komplette Ausgangssperre über die jüdisch geprägten Stadtteile und Ortschaften des Landes verhängt, die am Mittwoch vor dem Beginn des Passahfestes um 15 Uhr in Kraft trat. Damit schlossen auch die Läden früher als sonst.
Die Atmosphäre in Jerusalem nahm der Nahostkorrespondent Ulrich W. Sahm demzufolge so wahr: „Am Mittwochnachmittag war schon alles fast wie ausgestorben. Auf der sonst so belebten Durchgangsstraße donnern an normalen Tagen Lastwagen, Autos und PKW vorbei, sowie lautstarke Motorräder. Am Donnerstag gab es nur ein Fahrzeug: eine Polizeistreife.“
Der Journalist ergänzte: „Am Mittwochabend sollten eigentlich alle feiernden Israelis auf ihre Balkons treten und ‚gemeinsam‘ ein Pessachlied singen. In Jerusalem wurde aber die Totenstille nur vom unkoordinierten Gebetsruf der Muslime durchbrochen, wobei von jedem Minarett herab etwas zeitversetzt ein ‚Allahu akbar‘ durch die Lautsprecher der Moscheen in den arabischen Viertel gebrüllt wurde.“ Am Donnerstag sei es noch gespenstischer gewesen: „Man hörte nur noch Vogelgezwitscher und ansonsten keinerlei Motorengeräusch oder Kindergeschrei.“
In vielen anderen Städten hingegen feierten Juden den Festauftakt auf ihren Balkonen. Sie sangen gemeinsam „Ma nischtana“ – „Worin unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?“. Sie riefen Nachbarn gute Wünsche zu, klatschten, prosteten sich trotz der „sozialen Distanz“ zu. Weil beim Purim-Fest einen Monat zuvor viele Israelis die Vorsichtsmaßnahmen wegen der Corona-Bedrohung ignoriert hatten, verhängte die Regierung diesmal das radikale Ausgehverbot.
Videokonferenz: Technische Verzögerung beim gemeinsamen Singen
Bewohner aus der säkularen Stadt Herzlia zeigten sich angetan über diese ganz andere Nacht. „Die Gesänge auf den Balkonen waren toll. Und dazu schien der Vollmond so groß über uns“, erzählt der Tourguide Chaim.
Ifat hingegen sagt lachend: „Meine Eltern, meine Schwestern mit ihren Familien und ich wohnen nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt. Doch auch wir konnten uns in diesem Jahr nicht physisch treffen. Also versuchten wir, einen Teil des Seders über die Internettelefonie Zoom zu gestalten. Zumindest die Lieder wollten wir gemeinsam singen. Doch gerade die Lieder wurden immer nur verzögert wiedergegeben, sodass wir es bald aufgaben.“ 18 Personen seien sie gewesen, nach dem gemeinsamen Singen hätten sie dann in ihrer Kernfamilie zu sechst weitergefeiert.
Eine ganz andere Erfahrung machte Neta aus Givatajim mit ihrer Familie und der Internettelefonie. Sie war mit ihrem Mann und beiden Kindern zu ihren Eltern in Jerusalem zugeschaltet. „Mein Bruder wohnt ohnehin zur Zeit dort und meine Schwester war aus Tel Aviv für ein paar Tage angereist.“ Weil jedoch sowohl sie als auch der Vater der drei Kinder beide Ärzte sind, trug sie den ganzen Abend über eine Gesichtsmaske. „Das war ein bisschen komisch, sie über den Bildschirm so zu sehen, auf der anderen Seite konnten wir den Großteil der Haggada zusammen lesen. Zum Essen haben wir uns dann getrennt und danach noch einmal zueinander geschaltet. Mein Vater fasste es am Schluss so zusammen: ‚Es war ein toller Abend mit euch allen. Und im nächsten Jahr sehen wir uns dann trotzdem wieder in Jerusalem …‘“
Gute Erfahrungen mit dem Seder in kleiner Runde haben auch Avi und Rut aus dem Jerusalemer Stadtteil Nachlaot gemacht: „Eigentlich hatten wir überlegt, meine Eltern zu besuchen. Sie wohnen nur wenige Hundert Meter weit entfernt“, ruft Avi fröhlich am Donnerstagmorgen über den Hinterhof. „Doch wir wollten nichts riskieren. Also feierten wir beide mit den beiden Kindern. Unsere Große ist inzwischen vier Jahre alt, sie versteht schon manches von den Geschichten. Chag Sameach.“
Die Seder-Feier konnte nur im engsten Familienkreis begangen werden. Auch das traditionelle Verbrennen von Chametz, also gesäuertem Brot, war nicht so möglich wie in anderen Jahren. Die Stadt Jerusalem hatte 100 Container aufgestellt, in die Juden unliebsame Sauerteigreste werfen konnten.
Am Mittwoch gab es dann laut einer Mitteilung aus dem Rathaus „die größte Verbrennung von gesäuertem Brot in der Welt“. Sie fand an einem zentralen Ort im Industriegebiet Atarot statt. Bürgermeister Mosche Lion und der Jerusalemer Oberrabbiner Schlomo Amar waren zugegen. Lion sagte, trotz Ausgangssperre „war es uns möglich, keinen der jüdischen Gebräuche außer Acht zu lassen“.
Rivlin: Wir beten für bessere Tage
Staatspräsident Reuven Rivlin wandte sich in einer Grußbotschaft an jüdische Gemeinden in Israel und der Diaspora. Darin sprach er in Anlehnung an die Zehn Plagen, die nach biblischer Überlieferung dem Auszug aus Ägypten vorausgingen, von der „Corona-Plage“. An die Israelis gewandt sagte er: „Plötzlich bemerken wir, wie wichtig uns die einfachen Dinge sind, die unser Leben ausmachen. Einfache Dinge wie hinausgehen und die Frühlingsluft einatmen, die immer ein Teil von Pessach ist; wie die Hektik und die Eile – die so israelisch sind – der Vorbereitungen für das Fest; und wie das Versammeln der Familie, geliebt und vertraut, um den Pessachtisch.“
Rivlin zitierte gemäß einer Mitteilung des Präsidialamtes aus dem 2. Buch Mose 2, die Verse 23b und 24: „Und die Israeliten seufzten über ihre Knechtschaft und schrien, und ihr Schreien aus ihrer Knechtschaft stieg auf zu Gott. Und Gott erhörte ihr Wehklagen und gedachte an seinen Bund mit Abraham, Isaak und Jakob.“ Er fügte an: „In diesen Tagen, meine Lieben, beten wir alle, zusammen oder allein, jung und alt, säkular und religiös, für die besseren Tage vor uns. Wir alle bitten: ‚Gedenke an den Bund unserer Vorfahren‘.“
Den Juden in der Diaspora sagte er auf Englisch: „Auch wenn wir gezwungen sind, in unseren Häusern zu bleiben, werden wir immer noch die Freiheit haben, die grundlegendsten Dinge im Leben zu genießen: unsere Familien, unsere Gesundheit, unsere Geschichte und Tradition.“ Die damit verbundenen Werte gelte es aufrecht zu erhalten.
Großbritannien unterstützt Palästinenser mit medizinischer Ausrüstung
Mittlerweile hat das israelische Gesundheitsministerium 9.755 Menschen registriert, die mit dem Coronavirus infiziert wurden. Von ihnen befinden sich 165 Patienten in einem kritischen Zustand, 119 werden beatmet. 79 Israelis mit dem Virus sind bislang gestorben.
Zu Erkrankten in der palästinensischen Autonomie gab es am Donnerstag keine aktuellen Zahlen. Das Gesundheitsministerium in Ramallah äußerte sich aber zur Lage in der Diaspora. Im Ausland haben sich demnach 500 Palästinenser mit dem Coronavirus infiziert, 23 sind gestorben, die meisten in den USA. Das berichtet die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA. Weiter hieß es, Großbritannien habe 1 Million Dollar zur Verfügung gestellt, damit die Palästinenser medizinische Ausstattung für Patienten im kritischen Zustand erwerben können.
Von: eh / mh