Hinter dem Buchtitel „Der Muslim und die Jüdin“ könnten unwissende Leser eine Entführungs- oder Liebesgeschichte vermuten. Doch der Untertitel macht deutlich, worum es geht: „Die Geschichte einer Rettung in Berlin“. Der Retter war der ägyptische Arzt Mohammed Helmy, der in Berlin Medizin studiert hatte und dort nach 1933 unter anderem im Krankenhaus Moabit praktizierte. Er nahm sich in der Zeit der Verfolgung der Enkelin einer Patientin an: der Jüdin Anna Boros.
Für das spannende Buch hat Autor Ronen Steinke die wenigen vorhandenen Quellen gut verwertet und relevante Hintergrundinformationen eingeflochten; so schildert er etwa die Lage der Muslime im Dritten Reich oder das muslimisch-jüdische Miteinander im Berlin der 1920er Jahre. Auf Spekulationen zu möglichen Empfindungen der handelnden Personen verzichtet er fast vollständig. Da die Geschichte nicht streng chronologisch erzählt wird, kommt es zu Wiederholungen, die zumindest teilweise vermeidbar gewesen wären. Doch die allermeisten Informationen sind relevant.
Der Großmufti als Patient
Anna überlebte den Holocaust, weil Helmy sie als seine Nichte und muslimische Assistentin Nadja ausgab. Vorher hatte er ihre Mutter und Großmutter bei Bekannten untergebracht. Die junge Jüdin lebte bei Helmy und dessen deutscher Verlobter Emmy, die er erst nach dem Zweiten Weltkrieg heiraten durfte. „Gemeinsam inszenierten sie ein riskantes Schauspiel als zwei Muslime, die treu zum NS-Staat standen“, schreibt Steinke.
Tatsächlich gelang es ihnen, die Nationalsozialisten zu täuschen. Das ging so weit, dass der Arzt und seine Assistentin eines Tages zu einem besonders prominenten und antisemitischen Patienten gerufen wurden: dem Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, der Adolf Hitlers Gastfreundschaft genoss. „Falls ein Mitarbeiter des Muftis sie angesprochen haben sollte, konnte Anna vielleicht noch ausweichen, indem sie erzählte, worauf sich Helmy und sie für solche Fälle abgestimmt hatten: dass sie seit ihrer Kindheit in Dresden gelebt und leider, leider nie richtig Arabisch gelernt habe“, merkt Steinke an. Doch die beiden dürften froh gewesen sein, als sie die Situation unbeschadet überstanden hatten.
Besuche bei Verwandten
Der Autor betont, dass er die Geschichte vom Muslim und der Jüdin heute nicht mehr aus erster Hand erfahren könne: „Anna ist 1986 in New York gestorben, Helmy 1982 in Berlin.“ Doch hat er Dokumente studiert und mit Angehörigen der beiden Protagonisten gesprochen. Anschaulich beschreibt er seine Besuche in Ägypten und den USA. Dabei verschweigt er auch nicht die negative Einstellung der ägyptischen Verwandten gegenüber dem jüdischen Staat: Als die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem Helmy posthum als „Gerechter unter den Völkern“ ehren wollte, lehnten die Erben diesen Preis ab. „Man habe doch gewusst, wohin das führen würde“, merkt Steinke dazu an. „Juden würden nach Palästina kommen. Es würde Probleme verursachen. Deshalb hätten Muslime handeln und Hitler stoppen müssen. So wie es Helmy getan habe.“
Der Autor fragt sich, was den Muslim wirklich zu seiner Tat gebracht hat. Auch Helmy war schließlich gefährdet – obwohl die Nazis zwischen Juden und Muslimen differenzierten. Er war sogar zwischenzeitlich inhaftiert, weil sie Deutsche aus ägyptischer Haft freipressen wollten. Ein Grund für sein Handeln sei der Wunsch nach einer heimlichen Rache an den SS-Ärzten im Krankenhaus Moabit gewesen, vermutet Steinke. Die Naziführung hatte nämlich die kompetenten jüdischen Ärzte durch Gesinnungsgenossen ersetzt, die keine Ahnung von dem Beruf hatten.
Naturgemäß zeichnet der Verfasser ein positives Bild von Helmy, geht aber auch auf irritierende Eigenschaften wie Übermut gegenüber den Nazis ein. Auch bei der jüdischen Familie, vor allem der charakterlich schwierigen Großmutter, lässt er diese Aspekte nicht aus. Das macht das Buch besonders glaubwürdig.
Ronen Steinke: „Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin“, Berlin Verlag, 208 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-8270-1351-4
Von: eh