FLORENZ / JERUSALEM (inn) – Saftige Zypressen-Bäume, sanft geschwungene Hügel, ein verträumtes Örtchen mit roten Kacheldächern – das ist wunderschöne Toskana-Kulisse. Darin: Drei jüdische Brüder – alle weit über 70 Jahre alt – düsen zusammengequetscht in einem kleinen, dunkelblauen Fiat durch die Landschaft. Die Herrschaften haben eine Mission: Sie sind auf der Suche nach jener Höhle in den toskanischen Wäldern, in der sie sich als Kinder vor den Nazis versteckten. Das rettete ihnen damals das Leben. Sie sind erstmals wieder vereint in ihrer Herkunftsregion unterwegs.
Doch die Erinnerungen an die damalige Zeit und die gemeinsame Vergangenheit könnten unterschiedlicher kaum sein. Der Älteste der Anati-Brüder, Emmanuel – Spitzname Meme –, heute 84 Jahre, hat sich mit seinem Trauma von damals nie wirklich auseinander gesetzt, es vielmehr verdrängt. Wenn er überhaupt von damals spricht, dann erfüllt von Trauer, Schmerz oder gar Wut. Der zwei Jahre jüngere Andrea hingegen schwärmt förmlich von den Monaten – einer Zeit der Verfolgung –, die die Familie in der Höhle im Wald verbrachte. Er und sein Bruder hätten Pfeil und Bogen gehabt, Pilze gesammelt und seien mit der Natur verbunden gewesen. Der Jüngste, Ruben – kurz Bubi –, ist 72 Jahre alt und war damals zu jung, um sich an das allermeiste zu erinnern. So muss er sich auf die Erzählungen seiner Brüder verlassen.
Reise mit einzigartigen und komischen Figuren
Ihre Suche nach der Höhle führt die drei Anatis, die 1945 nach Israel auswanderten, zurück an ihren Erinnerungsort. Diese Reise beschreibt der Dokumentarfilm „Shalom Italia“ der israelischen Regisseurin Tamar Tal, der am 4. Mai in die deutschen Kinos kommt – in Originalfassung (hebräisch, italienisch) mit deutschen Untertiteln. Damit gibt Tal einen liebevollen Einblick in die Gedankenwelt und Fragen der drei Senioren. Mit den ausgewählten Szenen zeichnet sie authentisch ihre Charaktere nach. Der jüngste der Männer, Bubi, ist Tals Schwiegervater. Während eines Abendessens erzählte dieser, dass er und seine Brüder in Italien die Höhle suchen wollen, in der sie sich versteckt hatten, und bereits Flugtickets haben. Die Filmemacherin erklärt rückblickend: „An diesem Punkt wusste ich sofort, dass dies mein nächster Film wird.“ Da sie die drei Brüder kannte, war ihr klar, dass es nicht wichtig sei, ob sie die Höhle finden oder nicht. „Wohl aber, dass das eine einmalige Gelegenheit wäre, eine Reise zu unternehmen, die es nur einmal im Leben geben kann, mit drei wirklich einzigartigen, komischen, dramatischen Figuren.“
Die Regisseurin hat die Gabe, sich ihren Protagonisten auf eine detailgetreue Art zu nähern, sodass sie dem Zuschauer ans Herz wachsen. Das gelang ihr bereits mit dem Vorgänger-Film „Life in Stills“ über die 96-jährige Miriam Weissenstein, deren Mann Rudi der einzige Fotograf bei der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung Israels war. Das warmherzige Porträt über Weissenstein, ihren Enkel Ben und deren Fotoladen „The Photohouse“ in Tel Aviv heimste zahlreiche Preise bei Festivals ein. Tal begeistert sich für das Alter: „Ich muss gestehen, dass ich eine starke Verbindung zu Menschen in ihren letzten Jahren spüre. Ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Sicht auf unsere Welt haben mich schon immer fasziniert.“
Mut, sich zu erinnern
Meme, Andrea und Bubi sind auch alle im hohen Alter. Jeder für sich ist ein Original. Das kommt auch während „Shalom Italia“ immer wieder heraus. Während ihrer Wege in den Wäldern der Toskana stellen sie bald fest, dass die Suche sowohl körperlich als auch emotional stark herausfordert, beschwerlich ist. Sie kommen wiederholt in den Wald und an den Ort, wo sie die Höhle vermuten. Und so prallen die Erinnerungen aufeinander. Andrea verklärt seinen Blick auf damals und sagt: „Ich hatte Spaß während der Scho’ah!“ Meme entgegnet: „Das ist der Unterschied. Du warst ein Kind und ich wurde viel zu früh erwachsen.“ In der Höhle kamen die Eltern, vier Kinder und zwei Omas unter.
Ob sie die Höhle wirklich finden oder ohne Fund, aber mit erfrischten Erinnerungen nach Israel zurückkehren, klärt sich im Kino. Den Brüdern ist jedoch bewusst, dass, falls sie die verborgene Höhle tatsächlich finden, jeder eine Wahrheit für sich selbst akzeptieren muss, die das Weiterleben ermöglicht.
Während ihrer Reise durch die Toskana – stets in dem kleinen dunkelblauen Fiat – besuchen sie eine Familie, die den Juden beim Verstecken half und sie damit rettete. Konfrontiert mit den Personen sagt Meme: „Heute, 70 Jahre später, habe ich den Mut, mich erinnern zu wollen. Denn die letzten 70 Jahre hatte ich diese schrecklichen Erinnerungen aus meinem Gedächtnis gelöscht.“ Sie seien damals noch Kinder gewesen, aber die Eltern der Jungen hätten mit der Vergangenheit brechen wollen. „Das einzig Positive, das von alldem bleibt, von dieser trostlosen, furchtbaren Erinnerung, das seid ihr! Dass wir uns retten konnten, verdanken wir euch.“ Eine ergreifende Szene, die verdeutlicht, wie wichtig Zivicourage ist – damals wie heute.
Intimer Einblick
Die drei Männer kommen auch nach Florenz. Dort lebte die Anati-Familie früher. An einem Nachmittag besuchen die Drei eine Synagoge der Stadt. Dort werden sie mit den schrecklichen Taten der Nationalsozialisten schwarz auf weiß konfrontiert. „Es gibt Dinge, die ich auch nach 70 Jahren nicht fassen kann.“ Beim Blick auf eine große Gedenktafel bei der Synagoge erklingt eine Stimme aus dem Off: „Ich kannte sie fast alle. Unter ihnen Onkel und Cousinen. Es war ein Netz der Verbundenheit, der Liebe, menschlicher Beziehungen. Menschen, mit denen wir unseren Alltag teilten. Sie sind einfach verschwunden.“
Diese persönlichen Schicksale machen die Grausamkeit des Nationalsozialismus in unvorstellbarem Ausmaß einmal mehr greifbar. Damit Geschichte nicht vergessen wird, bedarf es dieser Berichte immer wieder – besonders in Zeiten, in denen ein Erstarken am äußeren rechten Rand der Politik zu beobachten ist. Es gilt jetzt, diese Chance zu nutzen, solange die Zeitzeugen noch für ihre persönlichen Berichte zur Verfügung stehen.
Mit „Shalom Italia“ ist der Regisseurin Tamar Tal ein etwas anderes Roadmovie als Porträt der drei suchenden Brüder gelungen. Der Streifen gibt einen ungewöhlichen und intimen Einblick in den Umgang der drei Juden mit ihrem Schicksal. Über die Zeit hinweg wachsen dem Zuschauer die Herren ans Herz und er möchte am liebsten selbst mithelfen, die Höhle zu finden. Mitunter gibt es amüsante Momente, die verspielte Musik hervorhebt. Gleichzeitig fordert der Film dazu heraus, sich mit Erinnerung und dem Umgang mit Verdrängen oder Vergessen auseinander zu setzen. Er thematisiert auch die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die Folgen für die Betroffenen. Die Themenmischung hat die Filmemacherin liebevoll zusammengesetzt und macht dadurch „Shalom Italia“ zu einer besonderen Dokumentation.
„Shalom Italia“, Israel/Deutschland 2016, 71 Minuten, Originalfassung (hebräisch, italienisch) mit deutschen Untertiteln, ohne Altersbeschränkung, Verleih: GMfilms, ab 4. Mai im Kino
Von: Martina Blatt