Judenhass hat viele Gesichter. Mal ist er chauvinistisch und rechts-nationalistisch. In anderen Fällen geriert er sich als liberaler Kampf für die soziale Gleichstellung von Minderheiten. Unter Christen und Muslimen kursiert er ebenso wie unter Atheisten oder gar Juden selbst. In ihrem aktuellen Buch mit dem Titel „Der Neue Antisemitismus“ gibt die bekannte amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt einen Überblick über diese unterschiedlichen Erscheinungsformen, in denen das anti-jüdische Ressentiment heute zu Tage tritt und stellt heraus, was sie voneinander trennt, und doch gleichzeitig miteinander verbindet.
Der breiteren Öffentlichkeit ist Lipstadt vor allem aufgrund des Gerichtsverfahrens bekannt, welches der britische Holocaustleugner David Irving gegen sie angestrengt hatte. In einem ihrer Bücher schrieb Lipstadt, dass Irving Fakten fälsche und manipuliere. 1996 verklagte Irving Lipstadt und ihren Verlag deshalb vor einem britischen Gericht wegen übler Nachrede – und verlor, nachdem Lipstadt in einem aufwändigen Verfahren die Wahrheit ihrer Anschuldigungen gegen Irving nachgewiesen hatte.
Täuschende Bewegungen
Holocaustleugnung ist aber nur eine der vielen Ausdrucksformen des Antisemitismus, die Lipstadt in ihrer Neuerscheinung diskutiert. Rechtsradikale Verschwörungstheorien werden ebenso unter die Lupe genommen wie links-liberale Campus-Aktivisten, welche die Kampagne der sogenannten BDS-Bewegung in die amerikanischen Universitäten tragen. BDS ist die Abkürzung für das englischsprachige Motto „Boycott, Divestment, Sanctions“. Auf Deutsch heißt das: Boykott, Desinvestionen (was so viel wie Kapitalabzug bedeutet) und Sanktionen.
Die Kampagne, die sich mit diesem Titel bezeichnet, ruft zu einem Boykott des Staates Israel auf. Nach dem Wunsch ihrer Initiatoren soll dieser so weit gehen, dass selbst israelische Universitätsprofessoren, welche die Politik der israelische Regierung kritisieren, oder jüdische Künstler, die eigentlich nichts mit israelischer Politik zu tun haben, daran gehindert werden sollen, in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Die Initiative verbucht regelmäßig Erfolge. Und so berichtet Lipstadt von israelischen Rednern an amerikanischen Universitäten, die nicht zu Wort kommen, weil sie von einem demonstrierenden Mob niedergebrüllt werden, oder von jüdischen Künstlern, die von Festivals ausgeladen werden. Während sich die BDS-Bewegung nach außen hin als Kampagne für die Rechte der Palästinenser geriert, schreibt Lipstadt, laufen ihre politischen Forderungen letztendlich darauf hinaus, die Existenz des Staates Israel zu untergraben.
Lipstadt berichtet auch davon, wie andere Bewegungen, die sich ein Engagement für soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben, und deren proklamierte Ziele eigentlich nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun haben, Israel dämonisieren und Juden diskriminieren. Konkret nennt Lipstadt das Beispiel von Frauenrechtsgruppen und Kampagnen für die Akzeptanz von Homosexualität, die dadurch aufgefallen sind, dass sie jüdische Symbole von ihren Veranstaltungen zu verbannen versuchten. Ferner kommt die Autorin auf antisemitische Angriffe auf Synagogen, jüdische Schulen und andere jüdische Einrichtungen in Europa und Amerika zu sprechen. Sie beschäftigt sich mit gewalttätigen antisemitischen Übergriffen auf Einzelpersonen, Morden und Terroranschlägen wie auch mit subtil-antisemitischen Äußerungen, die Akademiker ganz nebenbei in die Runde werfen.
Die Geschichtsprofessorin beschreibt außerdem, wie Antisemitismus heute auf unterschiedlichen Wegen starken Einfluss auf die Agenda führender Politiker nimmt. Auf diese Weise werde der Judenhass salonfähig gemacht. Osteuropäische Rechtspopulisten geraten hier ebenso ins Fadenkreuz der Autorin wie Jeremy Corbyn, der Chef der britischen Labour-Partei, und US-Präsident Donald Trump.
Lipstadt betrachtet aber nicht nur die antisemitischen Vorfälle an sich, sondern auch die gesellschaftlichen Reaktionen darauf. Während es Fälle gibt, in denen antisemitische Positionen und Aktivitäten unwidersprochen im Raum stehen bleiben, gibt es andere, in denen sich breiter kollektiver Widerstand gegen Judenhass formiert.
Allerdings beschränkt Lipstadt ihre Ausführung auf das Geschehen in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika. Den Nahen Osten, wo Antisemitismus heute wahrscheinlich am stärksten verbreitet ist, spart Lipstadt in ihren Ausführungen aus. Zu islamischem Antisemitismus äußert sie sich nur, insofern er eine unmittelbare Bewandtnis für konkrete Geschehnisse in der westlichen Welt hat. Ebenfalls keine Erwähnung finden Lateinamerika und Südafrika, wo Antisemitismus auch sehr stark verbreitet ist.
Fiktiver E-Mail-Austausch
Strukturiert sind Lipstadts Ausführungen als fiktiver Austausch von E-Mails zwischen ihr selber, einer Studentin und einem Professoren-Kollegen. In ihrem Schriftwechsel teilen sie sich ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Ideen zum Thema Antisemitismus mit. Die fiktive Studentin und Lipstadts fiktiver Dozenten-Kollege treten dabei vor allem als Fragesteller in Erscheinung, während Lipstadt die Beobachtungen der beiden einordnet. Das ganz erinnert ein wenig an jene Form der Dialektik, die man etwa aus den Schriften des Philosophen Platons oder auch aus dem Talmud kennt.
Mit dieser für heutige Verhältnisse eher unorthodoxen Methode geht die Autorin ein stilistisches Abenteuer ein, das zwar durchaus seine Reize hat, allerdings – wie das bei Abenteuern oft der Fall ist – nicht immer gut geht. Zum Teil wirken vor allem die Einleitungen der Briefe derart konstruiert, dass man sich beim Lesen schon mal fremdschämen kann. Auf der anderen Seite überzeugen die Dialoge durch ihre gute Lesbarkeit. Für die dramaturgischen Holprigkeiten am Beginn der fiktiven E-Mails wird der Leser außerdem durch inhaltlich fundierte und gut strukturierte Betrachtungen zum Thema entschädigt. Lipstadt ist nun mal Historikerin und keine Romanautorin.
Plädoyer für Meinungsfreiheit
Das Buch ist aber auch ein Plädoyer für kompromisslose Meinungsfreiheit, von der Lipstadt auch Antisemiten nicht ausnehmen möchte. Von Kommunikationsverboten hält sie überhaupt nichts. „Das Gesetz als Mittel zu gebrauchen, um jene, mit denen wir nicht übereinstimmen, zum Schweigen zu bringen, ist töricht und gefährlich. (…) Antisemitismus muss bekämpft werden, doch muss dieser Kampf strategisch geführt werden. Gerade im freien Austausch der Ideen erweisen sich die Extremisten als das, was sie sind. Und nur in diesem freien Austausch kommt die Wahrheit ans Licht, während Vorurteile und Intoleranz als das entlarvt werden, was sie sind.“ Damit bleibt Lipstadt einer Auffassung treu, die sie bereits ihrem Widersacher, dem Holocaustleugner David Irving gegenüber vertreten hat. Eine Haftstrafe, die jener wegen seiner antisemitischen Geschichtsfälschung absitzen musste, lehnte sie ab.
Mit diesem Bekenntnis zu einer radikalen Auslegung des Prinzips der Redefreiheit, welche auch den Austausch antisemitischer Ideen toleriert, gibt Lipstadt ein mutiges politisches Statement ab, was sicherlich noch zu so mancher Kontroverse führen wird. Denn ein großer Teil der Bemühungen im heutigen Kampf gegen Antisemitismus besteht in der Tat in dem Versuch, die Kommunikation antisemitischer Positionen zu unterbinden, anstatt ihnen entgegenzutreten. So verabschiedete die israelische Regierung kürzlich ein Gesetz, das BDS-Aktivisten die Einreise nach Israel verbieten soll. Dass die Umsetzung dieser Bestimmung problematisch und nicht besonders erfolgreich ist, zeigt der Fall der Amerikanerin Lara Alqasem. Die BDS-Aktivistin hatte im vergangenen Oktober, entgegen den Bemühungen der israelischen Regierung, ihre Erlaubnis, nach Israel einzureisen, vor einem israelischen Gericht erstreiten können. Nun studiert sie an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Bei alledem bleibt unklar, ob nach Lipstadts Meinung auch antisemitische Hassreden im Internet toleriert werden sollen. Lipstadt erkennt an, dass Hassredner über soziale Medien „ein größeres Publikum [erreichen], mit dem sie früher nie in Berührung gekommen wären. So werden offene Bekundungen von Hass zur Normalität.“ Soziale Netzwerke werden heute von der Politik und gesellschaftlichen Gruppen daher dazu angehalten, Hassreden und diskriminierende Inhalte von ihren Plattformen zu verbannen. In der Praxis werden solche Forderungen aber nur sehr eingeschränkt umgesetzt. Erst kürzlich wurde Facebook-Chef Mark Zuckerberg heftig kritisiert, weil er bekundet hatte, Inhalte, die den Holocaust leugnen, nicht von seiner Internetplattform löschen zu wollen. In dieser Debatte über die Regulierung des Internets wird Lipstadt nicht daran vorbeikommen, sich genauer zu positionieren.
Eine Frage der Definition
Ebenfalls streitbar ist Lipstadts Einschätzung, wonach Jeremy Corbyn, so wie auch ein Teil der BDS-Anhängerschaft, zwar dazu beitragen würde, dass antisemitische Ideen Aufwind bekämen, selber aber nicht unbedingt als Antisemiten einzustufen seien. Dies wirft die Frage auf, welche Denkhaltungen einen Menschen tatsächlich zum Antisemiten machen. Lipstadt hält bestimmten Akteuren zugute, dass sie tatsächlich einfach nur für bessere Lebensbedingungen für die Palästinenser und für mehr soziale Gerechtigkeit seien und sich dabei von antisemitischen Ideologen und Ideen fehlleiten ließen. Doch scheint sie dabei zu übersehen, dass der Antisemitismus sich selber eigentlich immer schon als so etwas wie eine Befreiungsbewegung begriffen hat, der die Menschheit vom Joch einer halluzinierten jüdischen Unterdrückung emanzipieren wollte. Auch Antisemiten des 19. Jahrhunderts wie Wilhelm Marr und Eugen Dührung wollten nach eigenem Bekunden „eigentlich nur“ die soziale Krise der europäischen Gesellschaften bekämpfen. Ihr Antisemitismus bestand aber eben gerade darin, dass sie fälschlicherweise die Juden für diese Probleme verantwortlich machten. Dementsprechend waren sie der Ansicht, dass sie die Juden bekämpfen müssten, um die sozio-kulturellen und politischen Probleme der Menschheit zu lösen.
Es ist genau dieses Grundmuster des Antisemitismus, das heute von BDS-Anhängern repliziert wird, wenn diese den jüdischen Staat als Alleinverantwortlichen für soziale und politische Probleme des Nahen Ostens ins Visier nehmen. Denn in Wirklichkeit haben diese Probleme eine Vielzahl von Ursachen, die zu großen Teilen auf Entwicklungen und Tendenzen in der arabischen und muslimischen Welt selbst beruhen. Man muss sich nicht erst die Vernichtung des jüdischen Staates wünschen, um Antisemit zu sein. Schließlich gab es auch vor Hitlers „Endlösung“ einen Antisemitismus, der (noch) nicht so weit ging, dass er Juden physisch ermorden wollte.
Alles in Allem ist Lipstadts Buch eine gut strukturierte und gut zu lesende Übersicht über die gegenwärtige Erscheinungsformen des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa. Dabei ist es umfassend und übersichtlich zugleich. Allerdings präsentiert das Buch weder neue Forschungsergebnisse noch neue Betrachtungen des Problems. Auch die konkreten Fallbeispiele, an denen Lipstadt das Phänomen des aktuellen Antisemitismus veranschaulicht, sind zum größten Teil bekannt. Der Verdienst des Buches besteht daher vor allem darin, unterschiedliche Beobachtungen aktueller antisemitischer Entwicklungen in einer integrierten Abhandlung zusammenzuführen. Damit eignet sich das Buch für Menschen, die sich einen Überblick über die Problematik verschaffen wollen.
Von: Marc Neugröschel