RIGA / JERUSALEM (inn) – Es ist ein einzigartiges Zeugnis von der Unterdrückung der Juden während der Nazizeit: Die Künstlerin Aleksandra Beļcova dokumentierte in 50 Zeichnungen den Alltag im Rigaer Ghetto und versteckte das Skizzenheft in ihrem Schreibtisch. Erst vor kurzem wurden die Bilder bei Renovierungsarbeiten im Lettischen Nationalen Kunstmuseum entdeckt.
Aleksandra Beļcova kam 1892 in Russland auf die Welt. Im Jahr 1919 zog sie nach Riga, weil sie den lettischen Künstler Romans Suta (1896–1944) heiratete. Als die Nationalsozialisten 1941 Lettland besetzten und zahlreiche Juden ins Ghetto von Riga deportierten, befanden sich unter den Bewohnern auch Klienten der Malerin und ihr Klavierlehrer. Sie schlich sich mit Lebensmittelpaketen zu ihnen ins Ghetto – und fertigte nach jedem Besuch Skizzen vom Alltagsleben der unterdrückten Juden an. So begegnete sie einmal einer Bekannten namens Anna mit deren beiden Kindern. Sie war entsetzt über das Elend und hielt ihre Begegnungen in einem Bild fest. Das Motiv der jungen Mutter voller Kummer beeindruckte sie offenbar, wie die israelische Tageszeitung „Yediot Aharonot“ feststellt – es fand sich immer wieder in ihrem späteren Werk.
Zwischen 1941 und 1944 entstanden rund 50 Zeichnungen in unterschiedlichen Techniken: unter anderem arbeitete die Künstlerin mit Tinte und mit Pastellfarben, die Bilder sind bunt oder schwarz-weiß, nicht alle wurden vollendet. Zu sehen ist unter anderem ein deutscher Soldat, der auf eine Frau schießt, während neben ihm Soldaten eine Gruppe Kinder hinrichten. Ob die Künstlerin Augenzeugin war oder nur von Hinrichtungen hörte, ist unklar. Doch die Bilder wirken sehr authentisch, schreibt „Yediot Aharonot“. Deutlich werde der „Sturm der Gefühle“, den sie beim Zeichnen erlebt habe.
Von der Existenz der Skizzen wusste bis vor kurzem niemand. Denn Beļcova hatte sie in ihrem Schreibtisch versteckt und mit einem Band verschnürt. Als sie 1981 starb, erbte ihre Tochter Tatjana Suta Werk und Möbel, ohne das Geheimnis zu kennen. Sie starb 2004 und überließ den Nachlass ihrer Mutter dem lettischen Kunstmuseum. Vor einiger Zeit kam das alte Skizzenheft bei einer Renovierung zum Vorschein, die Bilder wurden im Museum ausgestellt.
Bilder an Yad Vashem überreicht
Als der lettische Außenminister Edgars Rinkēvičs am 7. Juni bei einer Israelreise Yad Vashem besuchte, übergab er zwei der Skizzen ans Museum der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte. Die israelische Botschafterin in Lettland, Liron Bar Sade, erfuhr durch das lettische Außenministerium von der Entdeckung. „Die Geschichte war im Kunstmuseum in Yad Vashem nicht bekannt“, merkte sie an. Aus dem Ministerium hieß es: „Die 50 Werke, die entdeckt wurden, geben uns das Gefühl, dass es eine Obsession für Aleksandra Beļcova wurde, sie zu schaffen – in einem Versuch, Leiden, das durch die Schrecken des Holocaust zugefügt wurde, zu lindern.“
Doch warum hat die Künstlerin ihre Dokumentation nie veröffentlicht? Botschafterin Bar Sade sagte dazu: „70 Jahre lang hat man hier nicht über die Scho’ah gesprochen.“ Das habe erst langsam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begonnen. Vermutlich habe die Malerin Angst gehabt, „weil es in den Tagen der Sowjets verboten war, über solche Themen zu sprechen“. Im Ghetto von Riga waren im Zweiten Weltkrieg insgesamt rund 50.000 lettische Juden inhaftiert. Von ihnen überlebten nur 1.000 die nationalsozialistische Verfolgung.
Das lettische Außenministerium ließ verlauten: „Die Scho’ah in Lettland währte vier Jahre und führte zur Vernichtung der jüdischen Gemeinde, die davor ein pulsierendes Leben genoss. Bis heute gab es keine künstlerischen Zeugnisse vom täglichen Leben in den Ghettos in den lettischen Städten, in die die Juden nach der nationalsozialistischen Besatzung des Sommers 1941 deportiert wurden. Die Zeichnungen von Beļcova, die unlängst gefunden wurden, sind das erste authentische künstlerische Zeugnis, das je gefunden wurde.“
Von: eh