Die Jüdin Carry Ulreich hat als junges Mädchen den Zweiten Weltkrieg und die Scho’ah zusammen mit ihrer älteren Schwester und den Eltern in einem Versteck in Rotterdam überlebt. Eine katholische Familie versteckte die Ulreichs in ihrer Wohnung in der niederländischen Hafenstadt. Im Versteck führte Ulreich während der letzten Kriegsjahre Tagebuch. Am Dienstag hat der Aufbau-Verlag zusammen mit der hochbetagten Autorin die deutsche Übersetzung ihrer Tagebücher unter dem Titel „Nachts träum ich vom Frieden“ in der Botschaft des Königreichs der Niederlande in Berlin vorgestellt.
„Meine Geschichte ist wie die von Anne Frank mit Happy End“, sagt Ulreich über die Geschichte ihrer Jugend. Die Eltern Hanna und Gustav Ulreich fanden zusammen mit ihrer Tochter Caroline (genannt Carry), der älteren Schwester Rachel und ihrem Verlobten Avraham Unterschlupf bei der katholischen Familie Zijlmans. „Sie waren gute Menschen“, sagte Ulreich am Dienstag über ihre Retter.
Christliche Nächstenliebe der Retter
„Sehr fromm und katholisch“ seien sie gewesen. Adriaan and Maria Zijlmans versteckten die Ulreichs vom Oktober 1942 bis zur Befreiung am 5. Mai 1945 in ihrer Wohnung in Rotterdam, obwohl das Ehepaar selbst vier Kinder hatte. Von denen lebten damals noch drei bei den Eltern. „Jesus hat gesagt, dass man alle Menschen lieben soll, wie sich selbst. Das haben sie getan“, erinnert sich Ulreich rückblickend an die Menschlichkeit und Nächstenliebe der katholischen Christen, denen ihre Familie die Rettung verdankt.
Im Gegensatz zu Anne Frank wurden die Ulreichs nicht verraten und konnten so die Zeit des Nationalsozialismus und der Besatzung der Niederlande durch das Deutsche Reich überleben. Die damals 15-jährige Jüdin Anne Frank war 1944 verraten und dann 1945 kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet worden. Nach dem Krieg hat ihr Vater Otto Frank die Tagebücher seiner Tochter unter dem Titel „Das Tagebuch der Anne Frank“ veröffentlicht. Das Buch gilt heute als ein wichtiges historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust und die Autorin als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten.
Zwei Welten trafen aufeinander
Der niederländische Historiker Bart Wallet von der Freien Universität Amsterdam bezeichnete die Tagebücher von Carry Ulreich als „historisches Dokument und Monument“, das wichtige und erhellende Einblicke in die Subkultur der niederländischen Juden in Rotterdam gewähre, die stark von Ostjudentum geprägt gewesen sei. So sei Vater Gustav, der wie seine Frau nach dem Ersten Weltkrieg von Polen in die Niederlande geflohen war, sehr stolz auf seine niederländische Identität gewesen und habe es daher nicht erlaubt, dass daheim Jiddisch gesprochen wurde.
Im Versteck seien mit der jüdischen Mittelstandsfamilie Ulreich und der katholischen Arbeiterfamilie Zijlmans zwei Welten aufeinander getroffen, von denen die Tagebücher ebenso berichten, wie von den Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten des jungen Mädchens während des Krieges. Wallet würdigte die Zijlmans, die mit „Liebe, Glaube und Hoffnung“ für den Frieden gekämpft hätten. Ulreichs Tagebücher sind nach Angaben von Wallet auch relevant für die Geschichtswissenschaft. Erst um 1980 hätten peu à peu die Überlebenden, die in den Verstecken die Scho’ah überstanden haben, Eingang und Aufmerksamkeit in der Erinnerungskultur erlangt. Ulreichs Tagebücher der Jahre 1941 bis 1945 leisteten dazu einen wichtigen Beitrag. Vor 1980 habe sich die Erinnerungskultur überwiegend auf die KZ-Opfer beschränkt.
Carry Ulreich ist heute 91 Jahre alt. Die Autorin lebt seit 1946 mit ihrer mittlerweile vielköpfigen Familie in Tel Aviv. Im Juli 1977 hat die Scho’ah-Gedenkstätte Yad Vashem Adriaan Johannes Marinus Zijlmans, seine Frau Maria Hendrika Jacoba Zijlmans-Looman und ihre Kinder Canisius, Marinus und Johanna Maria als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Carry Ulreich: „Nachts träum ich vom Frieden: Tagebuch 1941-1945″, 380 Seiten, Aufbau Verlag, ISBN: 978-3351037062
Von: Norbert Schäfer