Das vielleicht größte Unglück für Eltern ist es, wenn die Kinder vor ihnen die Erde verlassen. Die jüdische Tradition hat für Todesfälle die Trauerwoche Schiv’a (hebräisch für „sieben“) vorgesehen, in der Hinterbliebene nicht arbeiten müssen und von Verwandten und Freunden zuhause besucht werden. Für Vater Eyal Spivak (Shai Avivi), der seinen 25-jährigen Sohn Ronnie an den Krebs verloren hat, ist das aber kein Trost. Im Tischtenniskeller des Hauses fertigt er ein Kind nach dem anderen ab. Sie waren mit ihren Familien vorbeigekommen, um ihr Beileid auszudrücken. Jeder Schmetterschlag gegen die körperlich unterlegenen Gegner verschafft Eyal jetzt eine kurze Ablenkung von seinem Trauerschmerz.
Seine Frau Vicky Spivak (Evgenia Dodina) würde sich am liebsten wieder in den Alltag retten und ihre Arbeit als Schullehrerin aufnehmen. Nur hat der nervige Vertretungslehrer strikte Anweisungen der Direktorin erhalten, Vickys Klasse weiterhin zu leiten, bis sie wieder richtig „funktioniert“. Eyal hat es sich unterdessen zur Aufgabe gemacht, das medizinische Marihuana seines Sohnes aus dem Hospiz zu entwenden. Es ist praktisch das letzte Überbleibsel von Ronnie, der die Droge in der Endphase seiner Krankheit gegen die Schmerzen einnahm. Der Vater will daraus Joints drehen, was er vorher noch nie gemacht hat. Er holt sich den Nachbarjungen und Jugendfreund seines Sohnes, Zooler (Tomer Kapon), zur Hilfe.
Traumwandlerisch sicher, atemberaubend poetisch
Der israelische Film „Ein Tag wie kein anderer“ ist ein ganz und gar verblüffendes Werk. Es ist von einem tiefen Humanismus und einer Reife beseelt, die bei Erstlingswerken ungewöhnlich sind. Regie geführt hat der 34-jährige Asaph Polonsky, der in den USA geboren wurde und in Israel aufwuchs. Der Film ist schwer und leicht zur gleichen Zeit. Er besitzt die niederschmetternde Thematik der Trauerarbeit, die chirurgisch genau anhand der Mimiken der Protagonisten seziert wird. Polonsky erzählt diesen Prozess aber mit solch einer traumwandlerisch sicheren Hand und atemberaubend poetischen Bildern, dass die Handlung schwebend daherkommt.
Zugegebenermaßen gibt es auch nicht allzu viel Handlung. Beim Versuch, die Joints gemeinsam mit dem Jugendfreund zu basteln, geht es Eyal nicht um den Rausch. Es ist für ihn eher eine weitere Möglichkeit, von seinem Sohn Abschied zu nehmen. Der Schauspieler Shai Avivi spielt diesen aufgelösten Vater mit passiver Aggressivität gegenüber seinen Mitmenschen und immer am Rande des Wahnsinns, so dass er den Zuschauer mitfühlen lässt. Avivi findet mit seiner gestressten Körperhaltung und der dauerhaften Gereiztheit Humor in tragischen Momenten und wandelt damit nicht nur optisch auf den Spuren des amerikanischen Comedian Larry David („Curb Your Enthusiasm“).
Die kleinen Gesten helfen zurück ins Leben
Der Schmerz der Familie, der die Wohnung bis in die letzte Ritze erfüllt, ist allgegenwärtig. Mutter wie Vater zerreißt es fast innerlich. Simple Tätigkeiten, wie sich die Haare zu waschen oder den Bart abzurasieren, werden existenziell aufgeladen. Es sind die kleinen Gesten, die den Eltern helfen, wieder ins Leben zurückzufinden. Das Ende der Schiv’a macht nur klar, dass Trauer subjektiv ist und sich keinen Normen und Regeln unterwirft. Um die Trauer-Meditation aufzuhellen, bietet der Film immer wieder Musical-Momente, in denen Songs die Szenen emotional aufbrechen. Dazu tragen die melancholischen Popsongs der Israelin Tamar Aphek bei. Es gibt aber auch ein spektakuläres Luftgitarren-Solo des Jugendfreundes Zooler in der Wohnung der Spivaks zu bestaunen.
Einmal liegt Zooler, müde vom Gras und dem Sushi, das er eigentlich hätte ausfahren sollen, auf dem Bett des verstorbenen Freundes. Nach und nach gesellen sich Eyal und Vicky dazu und finden einen gemeinsamen Moment der Ruhe. Die emotionale Taubheit während den Beileidsbekundungen, das Taumeln zurück in den Alltag und die Simulation eines normalen Lebens sind dadurch kurz beiseite geschoben.
Im Laufe des Films setzt sich bei Eyal die Gewissheit durch, dass sich Sohn Ronnie jetzt an einem besseren Ort ohne Schmerzen befindet. Und bei der verpassten Möglichkeit, die Liegeplätze auf dem Friedhof neben dem Grab ihres Jungen für sich und seine Frau zu reservieren, wächst eine Erkenntnis. Eyal scheint der Gedanke zu beruhigen, dass es diese Geste der Zusammengehörigkeit im Diesseits nicht mehr braucht und die Familie anderweitig verbunden bleiben wird.
„Ein Tag wie kein anderer“ ist wie ein epischer, glücklich machender Popsong von Neil Young oder Van Morrison. Wenn er zu Ende ist, will man den Film trotz oder gerade wegen der Traurigkeit gleich wieder sehen. Das ist ein kleines, bittersüßes Meisterwerk voller Atmosphäre und genauer Beobachtungen, ein funkelndes Filmjuwel mit einer aufregenden Bildsprache.
„Ein Tag wie kein anderer“, 98 Minuten, freigegeben ab 6 Jahren, ab 11. Mai in den deutschen Kinos.
Von: Michael Müller