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Ein Puzzle aus Bach, Bin Laden und der großen Liebe

Im neuesten Werk des großen Romanciers Leon de Winter wird Osama Bin Laden lebendig gefasst – der Rahmen für eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. „Geronimo“ ist eine poetische, tragische, total verrückte Erzählung. Eine Rezension von Moritz Breckner
Ein Roman mit Sprengstoff – und doch leisen, sehr sensiblen Tönen: Leon de Winters Meisterwerk „Geronimo”

Wer beim Lesen gerne leise Hintergrundmusik hört, dem seien für Leon de Winters neuestes Werk „Geronimo“ die „Goldberg-Variationen“ Johann Sebastian Bachs ans Herz gelegt. Die Klavierstücke aus dem 18. Jahrhundert sind für den Mossad-Agenten Tom Johnson, der im Buch eine der Hauptrollen einnimmt, Lebensbegleiter – und aus seiner Perspektive Auslöser einer Katastrophe.
Als Johnson noch bei der CIA arbeitet, blickt er an einem Super-Bowl-Sonntag mit Team Six der Eliteeinheit „Navy Seals“ zu tief ins Glas. In dieser Runde wird eine Idee geboren: Das Team, das für die bevorstehende Liquidation Osama Bin Ladens trainiert, kommt zu dem Schluss, es sei besser, den Top-Terroristen lebendig zu fassen. Gesagt, getan: Ohne das Wissen von Pentagon und Weißem Haus kidnappen die Amerikaner Bin Laden durch einen Tunnel und platzieren die Leiche eines Doppelgängers mit falschen DNS-Spuren. Bin Laden wird an einem sicheren Ort verhört, bis Johnson den Israelis einen Tipp gibt.
Das klingt wie ein Polit-Thriller von Tom Clancy, ist aber in „Geronimo“ nur die Rahmenhandlung für eine mehr als ungewöhnliche Liebes- und Familiengeschichte, die über mehrere Jahre erzählt wird. 2008 ist Tom in Afghanistan stationiert, wo er sich, den Tod der eigenen Tochter verarbeitend, mit der jungen Apana anfreundet, deren Vater den US-Soldaten als Übersetzer hilft. Apana will Pianistin werden, nachdem Tom ihr die Goldberg-Variationen vorspielt, was er sofort bereut: „Sie schaute zu den Lautsprecherboxen, sah mich an, verzweifelt fast, um eine Antwort auf die Frage flehend, warum ihr das aufgebürdet wurde, warum sie inmitten der Unvollkommenheit das Vollkommene erfahren musste. Sie wusste von dem Moment an, dass Schönheit schmerzte, weil ihre Erfahrung endlich war.“

Puzzleteile fügen sich im Laufe der Handlung zusammen

Apana wird von den Taliban entführt und wegen ihrer Liebe zu westlicher Musik verstümmelt. Jahre später erbarmt sich kein anderer als Osama Bin Laden der Bettlerin, die inzwischen im pakistanischen Abbottabad lebt. Bin Laden lebt dort recht vergnügt mit seinen Frauen und Kindern, traut sich des Nachts heraus, um Zigaretten, Vanilleeis und Viagra zu besorgen. De Winter schildert dies nicht karikierend, sondern verblüffend glaubwürdig. Bin Laden verbringt die letzten Wochen vor seiner Entführung euphorisch, weil er an einen USB-Stick mit brisanten Informationen über Barack Obama gelangt ist, womit er versucht, den US-Präsidenten zu erpressen.
Jener USB-Stick wiederum wird zu einem Puzzleteil im Leben des Teenagers Jabbar, eines pakistanischen Christen, der in Apana verliebt ist und sie nach dem Verschwinden Bin Ladens bei sich aufnimmt. Jabbar wünscht sich nichts sehnlicher, als in die USA auszuwandern, und hofft mit rührender Naivität auf eine Greencard. „Er konnte es in dem Land, in dem er lebte, nicht laut sagen, aber er bewunderte Amerika, er bewunderte die Christen des mächtigsten Landes der Erde, er bewunderte ihren Mut und ihren Erfindungsgeist und ihre Fähigkeit, mit Chinooks und Black Hawks vom Himmel herabzusteigen und böse Männer zu bestrafen.“
Die Handlungsstränge aller Personen sind miteinander verwoben und erstrecken sich über Jahre und Kontinente. Der interessierte Leser verliert dennoch nicht den Überblick, und am Ende laufen die Fäden zusammen: Tom, inzwischen in London und Amsterdam vom israelischen Geheimdienst Mossad rekrutiert, hat nur einen Wunsch: Apana nach Amerika zu holen. Und für Bin Laden schlägt zum zweiten Mal die letzte Stunde.
„Geronimo“ ist eine durch und durch ungewöhnliche, ja verrückte Geschichte. Von beißendem Humor ist eine Szene, in der Barack Obama seine großartige Gänsehaut-Rede zum Tode Bin Ladens verfasst. De Winter druckt diese vollständig ab, ergänzt zwischen den Absätzen aber Gedanken, die sich Obama beim Schreiben gemacht haben könnte: „Der Fucker war über den Haufen geschossen (…) jetzt mal wieder ein ‚ich‘ einbauen“. Tief traurig hingegen ist Toms Trauer über die eigene Tochter, die Jahre zuvor bei den Bombenanschlägen in Madrid getötet wurde: „Die Trauer über ihren Tod ist so etwas wie die Fassung einer Brille, die man trägt. Sie rahmt alles ein, was man sieht, auch wenn man nicht darauf achtet.“
Der Niederländer de Winter, Sohn orthodoxer Juden, unterstreicht mit „Geronimo“ seine Positionen als Kenner des Nahen Ostens und einer der besten Autoren unserer Zeit. Zärtlich beschreibt er die Gefühle und Motive seiner Helden, die einer brutalen, traurigen Welt ausgesetzt sind. Heilsam ist in jener Welt die Kunst – und somit auch das vorliegende Buch.

Leon de Winter: „Geronimo“. Diogenes, 445 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 9783257069716

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