Israelnetz: Herr Mendel, was sagt es über den Zustand unserer Gesellschaft, wenn ein Israeli mit Kippa auf der Straße angegriffen wird und Rapper Auschwitz-Opfer verhöhnen dürfen?
Meron Mendel: Diese Fälle haben in den letzten Wochen große mediale Aufmerksamkeit erlangt. Aus der Beratungs- und Bildungsarbeit wissen wir, dass das keine neuen Entwicklungen sind. 2014 hatte die Antisemitismus-Kommission bereits festgestellt, dass jeder fünfte, der hier lebt, latent antisemitisch ist.
Wie geht die Gesellschaft damit um?
Bisher wurde der Antisemitismus eher ignoriert. Mit den aktuellen Fällen ist ein medialer Damm gebrochen. Viele sind für das Thema sensibilisiert. Es geht nun darum, nicht in einen Alarmismus zu verfallen. Ich bin nicht so vermessen zu denken, dass wir Antisemitismus für immer und ewig aus der Gesellschaft verbannen können. Aber es gibt noch viel Luft nach oben, wenn es darum geht, Jugendliche und Erwachsene für das Thema zu sensibilisieren.
Wo liegen die Ursachen?
Wir müssen fragen: Welche Funktion hat Antisemitismus für den Antisemiten? Warum greift er auf Vorurteile und Weltbilder zurück? Beim Rassismus geht es darum, dass die anderen minderwertig sind und deshalb beherrscht werden sollen. Antisemitismus funktioniert anders. Für Antisemiten sind die Juden nicht die Dummen, sondern sie sind schlauer – und gefährlicher. Dabei kommt es nicht auf die Zahl an. Es reicht die Grundidee, dass es da jemanden gibt, der die Welt beherrschen will.
Gibt es politisch unterschiedliche Ausprägungen?
Ja. Im linken Spektrum ist es eine verkürzte Kapitalismus-Kritik. Statt zu verstehen, wie die Weltwirtschaft funktioniert und wie weltwirtschaftliche Krisen entstehen, wird das Problem auf eine Gruppe verlagert: Die Juden sind schuld. Der islamische Antisemitismus findet eine einfache Erklärung, warum in den arabischen Ländern die Situation so schlecht ist und warum im globalen Süden Armut herrscht: Schuld daran ist der Staat Israel, der verlängerte Arm des Weltjudentums. Gemeinsam ist diesen Ausprägungen jedoch immer, dass Antisemitismus die verkürzte Antwort auf ein komplexes Thema liefert. Im rechten Spektrum steht die Frage im Raum, warum wir den deutschen Nationalismus nicht wieder herstellen können. Die Juden schwingen mit der Holocaust-Keule und sie sind diejenigen, die uns daran hindern, stolze Deutsche zu sein.
Wie sieht es in der Mitte der Gesellschaft aus?
Es gibt keine Mitte der Gesellschaft. Das ist eine Konstruktion. Wir merken immer wieder, wie bestimmte Ideen von „extrem links“ oder rechts ansatzweise in der sogenannten Mitte der Gesellschaft reproduziert werden. Ressentiments gegen den Staat Israel oder Vergleiche zwischen Israel und den Nazis finden Sie nicht nur bei Rechten, Islamisten oder Linken. Die Ideen sind nicht an eine bestimmte politische Ecke gebunden, sondern verbreiten sich und werden salonfähig. Das geschieht in den gängigen Medien, aber auch in den sozialen Medien. Deswegen geht es darum, die Breite der Gesellschaft zu erreichen, wenn man gegen Antisemitismus arbeitet.
Wie sieht es mit islamisch motiviertem Antisemitismus aus?
Auch der ist keine neue Entwicklung. In einigen muslimischen Gemeinschaften ist die Feindschaft gegen Israel ein identitätsstiftendes Monument. Junge Migranten in bestimmten Kreisen entwickeln ihre Identität über die Abgrenzung von Juden und Israel. Wer zu der Gruppe dazugehören will, muss das Wort „Jude“ in einer bestimmten Konnotation verwenden. Er muss Identifikation mit Palästina entwickeln. Im Gespräch mit Jugendlichen stellen wir fest, dass dieses Schwarz-Weiß-Schema auf einem dünnen Wissensstand basiert. Oft wissen muslimische Jugendliche weder etwas über die Geschichte des Nahen Ostens und Israels noch über Juden in Deutschland heute. Ihr Wissen beziehen sie aus ihrer Peergroup, aus arabisch- oder türkissprachigen Medien – und aus den Moscheen. Dort hören sie, dass die Juden gefährlich sind, dass sie zum Beispiel Organe von Palästinensern entnehmen und sie an reiche Juden in Amerika verkaufen. Gerade in unserer Zusammenarbeit mit Moschee-Gemeinden klären wir über diese Mythen auf und berichtigen Fehlinformationen.
Identität bildet sich also bei offener Abgrenzung von Juden. Gibt es dafür belastbare Zahlen?
Es gibt zwei neue Studien zu Antisemitismus bei Flüchtlingen von Günther Jikeli und vom Zentrum für Antisemitismusforschung. Da geht es vor allem um Menschen, die in Syrien oder im Irak sozialisiert wurden. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen in diesen Staaten, wo Juden- und Israelhass eine Staatsideologie ist, Vorurteile gegen Juden haben. Aber auch, wenn unter den Geflüchteten Antisemiten sind, haben sie das Recht auf Asyl. Wir müssen vielmehr schauen, wie wir Menschen aufklären können, damit sie bestimmte Vorurteile aufgeben.
Das ist ein altruistisches Motiv …
Das Recht auf Asyl ist unabhängig von der Meinung der verfolgten Person. Wenn jemand verfolgt wird oder flieht, hat er laut UN-Konvention das Recht auf Asyl. Das ist das einzige Kriterium. Natürlich müssen die Menschen, wenn sie hier ankommen, bestimmte gesellschaftliche Werte akzeptieren. Es wäre naiv zu glauben, dass das von heute auf morgen passiert. Das ist ein Prozess.
Wie kann das praktisch aussehen?
Wir müssen die Herzen der Jugendlichen erreichen. Nur wenn wir glaubhaft vermitteln, dass wir nicht nur gegen Antisemitismus, sondern genauso auch gegen antimuslimischen Rassismus und gegen jede Form der Diskriminierung arbeiten, werden wir sie wirklich erreichen. Wir müssen das mit Menschen machen, die sie zu ihrer eigenen Gruppe zählen. Muslimische Mitarbeiterinnen und Kooperationen mit muslimischen Verbänden spielen dabei eine wichtige Rolle. Darüber kommen wir viel näher an die Jugendlichen heran. Wir haben in unserer Einrichtung im Rahmen solcher Kooperationen 25 Imame fortgebildet. Auch Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden sind wichtig.
Sind bei der AfD antisemitische Tendenzen erkennbar?
Es reicht zum Beispiel, die Äußerungen von Björn Höcke zu betrachten. Er fordert eine Kehrtwende um 180 Grad in der Erinnerungspolitik. Höcke möchte gerne einen Schlussstrich unter die Debatte über die NS-Vergangenheit ziehen. Dabei macht er die Juden für den so genannten „Schuldkomplex“ der Deutschen verantwortlich – das ist die klassische Täter-Opfer-Umkehr. Er arbeitet mit einem klaren Feindbild und inszeniert eine Aufteilung von Deutschen und Juden, die es so nicht gibt.
Es verbietet sich aber, vom Teil aufs Ganze zu schließen. Sollte das nicht auch für Höcke und die AfD gelten?
Ich habe es bei der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr erlebt, wie beliebt Höcke bei seiner Anhängerschaft ist. Natürlich kann man auch sagen, Thilo Sarrazin ist SPD-Mitglied. Aber damals hat sich die gesamte Partei inklusive der Basis von ihm distanziert. Das ist bei der AfD anders. Da umarmt die Basis Höcke. Seine Beliebtheit steigt. Wenn er sich bei der Führungsebene unbeliebt macht, dann nicht wegen inhaltlicher Differenzen, sondern weil sie Angst haben, dass er diese Fassade zerstört. In AfD-Internetforen finden Sie bei bestimmten Themen klassische antisemitische Stereotype und Hetze gegen Juden. Der Tenor ist häufig: Mit dem Vorwand, Jüdinnen und Juden schützen zu wollen, können wir gegen Muslime mobilisieren – gleichzeitig sind Jüdinnen und Juden aber auch unser Feind.
Die AfD ist in der Herzkammer der Demokratie, im Reichstag angekommen …
Aus jüdischer Sicht und für mich ist es ein unangenehmes Gefühl, dass die größte Oppositionspartei im Bundestag eine Partei ist, unter deren Anhängern viele Antisemiten sind. Diese Situation ist in der Bundesrepublik neu. Das ist keine gute Nachricht, weder für Juden noch für andere religiöse Minderheiten. Die AfD grenzt Minderheiten und Schwache aus und hetzt gegen sie. Wir brauchen Menschen, die über Parteigrenzen hinweg dagegen vorgehen wollen.
Was wünschen Sie sich von religiösen Menschen im Kampf gegen Antisemitismus?
Ich begreife mich selbst als religiösen Menschen, auch wenn ich es nicht in allen Formen praktiziere. Ich glaube, alle religiösen Menschen sind in gewisser Weise sensibilisiert für das, woran sie glauben und dass der andere auch seinen Glauben behalten kann. Das tolerante Verständnis dafür zu sorgen, dass gerade die religiöse Vielfalt in unserem Land bestehen bleibt. Auf dieser Grundlage aller religiösen Menschen können wir aufbauen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Meron Mendel ist in einem Kibbutz im Negev aufgewachsen. Nach Wehrdienst und Studium in Haifa hat er in Frankfurt promoviert. Der Erziehungswissenschaftler ist seit 2010 Direktor der Bildungsstätte Anne Frank (BAF) in Frankfurt am Main, eines Zentrums für politische Bildung und Beratung in Hessen. Eine Säule der BAF-Arbeit ist die Beratung von Menschen, die von Rassismus oder Rechtsextremismus betroffen sind oder die Opfer von Diskriminierung wurden. Die zweite Säule ist die politische Bildung in Seminaren, Fortbildungen und bundesweiten Fachtagungen.
Die Fragen stellte Norbert Schäfer