„Den können Sie haben.“ Mit diesen Worten lieferte vor etwa 30 Jahren ein Palästinenser seinen Sohn im Lifegate-Zentrum ab – und wollte wieder gehen. Damals befand sich dort lediglich ein Wohnheim für Männer mit Behinderungen. Der Junge litt unter der erblichen Krankheit Muskeldystrophie und konnte nur sitzen. Der Leiter der christlichen Organisation, Burghard Schunkert, rief den Vater zurück, erzählt er im Gespräch mit Israelnetz. Er vermittelte ihm: „Es ist Ihr Sohn.“
Fahid durfte dann in der Einrichtung in Beit Dschala bei Bethlehem bleiben. Der Junge wurde „mit Salat und Gemüse vollgestopft“, um dem Vitaminmangel entgegenzuwirken. Seine Geschwister, die ebenfalls an der Krankheit litten, sind gestorben. Weil Palästinenser noch häufig innerhalb der Familien heiraten, sind solche Behinderungen sehr verbreitet. Fahid allerdings schaffte den Weg aus der Hilflosigkeit: Er wurde Schuhmacher, heiratete eine Lehrerin und bekam drei Kinder. Mittlerweile sammelt er in Israel gebrauchte Kleidung und verkauft sie in Hebron. Damit ernährt er auch seine alten Eltern.
Wer das Gelände von Lifegate betritt, merkt schnell: Dies ist ein Ort der Liebe und der Hoffnung. Nicht nur Fahid durfte das erleben. Zahlreiche palästinensische Kinder und Jugendliche mit Behinderungen erhalten hier Schulunterricht, Therapien und eine Ausbildung. Den Verantwortlichen ist es wichtig, die Familien mit einzubeziehen. Deshalb schlafen die Jungen und Mädchen, wenn möglich, zu Hause. Die Eltern lernen therapeutische Übungen und andere Hilfsmittel kennen. „Behinderte Menschen in diesem Land bekommen leider bis heute diese Botschaft: Es gibt keine Zukunft für dich“, bedauert Schunkert.
Lifegate will dem etwas entgegensetzen. Der englische Name heißt übersetzt „Lebenstor“. „Wir heißen Lifegate, weil das Tor sich öffnet und die Menschen aufnimmt, wie sie sind“, fasst der Gründer das Motto der Hilfsorganisation zusammen. „Jeder ist ein wunderbares Geschöpf Gottes und hat das Recht auf Entwicklung, Liebe und Akzeptanz. Das Tor öffnet sich erneut nach ein paar Jahren, um sie in die Gesellschaft zurückzulassen.“
Eltern erfahren: Nicht alle Juden sind schlecht
Außerdem will die Hilfsorganisation Brücken bauen. „Eine dieser grundlegenden Begegnungen ist der Besuch in einem israelischen Krankenhaus, wo oft jüdische und arabische Ärzte nach den Kindern und Jugendlichen sehen“, erzählt der aus Deutschland stammende Sozialarbeiter. „Sie behandeln sie sehr gut.“ Die Eltern machten die Erfahrung: „Nicht alle Juden sind schlecht. Das ist sehr wichtig.“ Er betont: „Wir sind nie gegen jemanden, wir sind für die Menschen, Israel eingeschlossen.“
Im Jerusalemer Alyn-Krankenhaus operiert unter anderen der orthopädische Chirurg Keenan Joseph die jungen Palästinenser. Der Israeli stammt ursprünglich aus Indien, hat aber auch schon in Großbritannien, Deutschland und den USA gearbeitet. Er mache keine Unterschiede zwischen Patienten, sagt er. Während des Ersten Libanonkrieges habe er von 1983 bis 1987 im nordisraelischen Zefat (Safed) gearbeitet: „Da kamen jeden Tag Israelis, libanesische Zivilisten, israelische Soldaten“, erinnert sich der Jude an die damaligen Patienten. Die Kontakte mit den palästinensischen Therapeuten von Lifegate seien ihm wichtig. Den Leiter des christlichen Hilfswerkes schätzt Joseph sehr: „Für mich ist er ein Engel.“
Eine Zusammenarbeit gibt es seit vielen Jahren auch mit der israelischen Organisation „Yad Sarah“, von der Lifegate unter anderem gebrauchte Ersatzteile für Rollstühle erwerben konnte. Außerdem organisieren die Mitarbeiter Begegnungen zwischen palästinensischen und israelischen Jugendlichen. Schunkert selbst lebt mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern in Israel und besucht eine messianisch-jüdische Gemeinde. Zwischen Zuhause und Arbeit muss er also durch Checkpoints fahren.
Zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern merkt der 62-Jährige an: „Sie sind Cousins, und beide wissen sehr, sehr gut, wie sie den jeweils anderen verletzen können. Aber beide wissen auch, wie sie einander eine Freude machen können und was sie nicht tun sollten. Und daran versuchen wir zu arbeiten.“ Der Leiter hat als junger Mann beim CVJM Gießen „eine Verkündigung erlebt, die Israel auf dem Schirm hatte“. Dadurch entstand bei ihm nach eigener Aussage die Liebe zu Israel. Am CVJM-Kolleg in Kassel studierte er Soziale Arbeit und Evangelische Theologie. Als CVJM-Sekretär führte er Jugendgruppen, die in Israel umherreisten – „immer haben sie natürlich auch die arabische Seite hier besucht“.
Glaube als Kraftquelle
Bei Lifegate arbeiten etwa 75 Angestellte, die sich um rund 200 Kinder und Jugendliche kümmern. „Manche von unseren Mitarbeitern sind wirklich aktiv in ihren eigenen Kirchen, traditionellen und freien Gemeinden, hier in Bethlehem. Der Glaube ist das, was uns eint, und auch unsere Kraftquelle.“ Einige kommen zu den Gebetstreffen. Außerdem gibt es am Anfang der Woche eine Andacht.
„Jeder, der seinen Glauben ernstnimmt, ist wie ein offener Brief, der gelesen werden kann von den Leuten, die immer fragen“, merkt Schunkert an. „Manchmal sind wir auch nicht der Brief, der wir vorgeben zu sein oder der wir gerne wären, wir machen natürlich Fehler. Aber es ist ein Unterschied, wenn man danach ‚Tut mir leid‘ sagen und um Vergebung bitten kann. Das ist immer unsere Chance.“
Neben den festangestellten Mitarbeitern helfen Freiwillige aus unterschiedlichen Ländern im Zentrum mit. Paul aus Deutschland zeigt die Therapieeinrichtungen, die Kindergartengruppen, das fröhlich bunte Spielgelände und die Schulklassen. Hier werden acht bis zehn Kinder von zwei Erzieherinnen betreut. Die Kinder sind zutraulich und neugierig. Sie kommen sofort angerannt und strahlen um die Wette.
Dann besichtigen wir die Werkstätten. Die jungen Menschen zeigen stolz ihre Produkte und freuen sich über jedes Lob. In der Weberei werden die Uniformen für die christliche Talitha-Kumi-Schule hergestellt. Kreativ geht es in der Näherei und in der Töpferei zu. In der Schusterwerkstatt entstehen orthopädische Einlagen, auch Reparaturen sind möglich. Eine Wäscherei, eine Schmiede und eine Schreinerei ergänzen das Angebot. Auch eine Ausbildung zum Koch ist möglich. In der Olivenholzabteilung stellt Paul fest: „Hier ist das ganze Jahr über Weihnachten.“
Obwohl es im palästinensischen Gebiet nicht notwendig wäre, arbeitet Lifegate nach europäischen Standards. Das gilt für die Hygienevorschriften ebenso wie für Sicherheitsvorkehrungen. Während unseres Gesprächs kommt ein Mitarbeiter herein und will wissen, wie hoch ein bestimmtes Geländer in der Außenanlage sein soll, damit es sicher für alle ist. Nach kurzem Abwägen entscheiden sich Chef und Angestellter für den europäischen Standard, mit einer Anpassung an den Ort.
Aus Scham wird Hoffnung
Wenn die Lifegate-Mitarbeiter palästinensische Familien besuchen, bekommen sie viel Armut zu sehen. Die Organisation versucht zu helfen, gibt aber grundsätzlich kein Geld weiter. Eines ist ihr wichtig: „Wir wollen, dass die Menschen wenigstens einen kleinen Beitrag leisten, aus eigener Anstrengung die Lage zu ändern.“ Und in der Tat ändert sich etwas: Es fängt mit dem Bewusstsein der Eltern an. Aus Scham wird Hoffnung, weiß Burghard Schunkert zu berichten. Ein Beispiel dafür ist die „Erfolgsgeschichte“ von Fahid. Der Leiter fügt an: „Ohne Glauben könnte ich hier nicht einen Tag existieren.“
Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 6/2017 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915152, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online.
Von: Elisabeth Hausen