JERUSALEM (inn) – Der Älteste ist 102 Jahre alt, die Jüngste 18. Doch alle haben sich in irgendeiner Weise um das „brüderliche Zusammenleben“ in der israelischen Gesellschaft verdient gemacht. Deshalb haben sie die Ehre, am 73. Unabhängigkeitstag (Jom HaAtzma’ut) eine der zwölf traditionellen Fackeln anzuzünden. Die Zeremonie auf dem Jerusalemer Herzlberg beginnt am Mittwochabend um 20 Uhr Ortszeit.
Das Motto lautet in diesem Jahr: „Israelische Brüderlichkeit“. Und so ist die Wahl von Verkehrsministerin Miri Regev (Likud) und Kulturminister Jechiel Tropper (Blau-Weiß) auf 13 Israelis gefallen, die das gesamte Spektrum der Gesellschaft widerspiegeln. Die Fackeln symbolisieren die biblischen zwölf Stämme. Eine Fackel steht für die Diaspora, sie enzündet eine junge Mexikanerin, wie die Zeitung „Ma’ariv“ berichtet. Zwei Fackeln werden von je zwei Menschen gemeinsam angesteckt.
Wenn ein Muslim ein jüdisches Gebet spricht
Zu den Fackelanzündern gehören drei Mediziner, die sich im Kampf gegen das Coronavirus behauptet haben. Einer von ihnen ist Dror Dicker, der Leiter der Corona-Abteilung im HaScharon-Krankenhaus in Petach Tikva. Als seine Mutter Jehudit mit 94 starb, verließ er nicht das Krankenhaus für die traditionelle Trauerwoche. Stattdessen blieb er in seiner Abteilung, um Leben von Patienten zu retten. Der Experte für Herz- und Gefäßerkrankungen hat auch einen Lehrauftrag an der Universität Tel Aviv. Regev und Tropper werteten seinen Einsatz als „Vorbild der Liebe in Zeiten von Corona“.
Nurdschis Abu Jaman gehört zur drusischen Gemeinschaft in Israel. Seit 1989 arbeitet die 54-Jährige aus Rame in Westgaliläa als Krankenschwester. Während der Corona-Krise leitete sie verschiedene medizinische Teams. Zudem setzte sie ihren Dienst für die Organisation „Tipat Halav“ (Ein Tropfen Milch) fort. Sie unterstützt Schwangere, Kinder bis zum Alter von sechs Jahren und deren Familien.
Der Krankenpfleger Maher Ibrahim aus Daburia bei Nazareth arbeitet in Afula in einer Corona-Abteilung. Vor zwei Monaten wurde der Muslim in Israel bekannt, als er für einen jüdischen Patienten, der im Sterben lag, ein hebräisches Gebet sprach. „Die Familie des Patienten, eines 74-jährigen Ultra-Orthodoxen, konnte nicht rechtzeitig kommen, um sich von ihm zu verabschieden“, erklärte Ibrahim sein Handeln. „In seinen letzten Augenblicken las ich das Schma Israel.“ Dieses Gebet, „Höre Israel“, betont die Einzigkeit Gottes. Juden sprechen es unter anderem vor ihrem Tod.
Ein nimmermüder Gewürzhändler aus dem Jemen
Der älteste der diesjährigen Fackelanzünder ist Ja’isch Giat. Der 102-jährige Jude aus dem Jemen betreibt in der Küstenstadt Aschkelon einen Gewürzladen. Nach der Tradition des mittelalterlichen Religionsphilosophen Rabbi Mosche Ben Maimon, auch bekannt unter der Abkürzung Rambam, stellt er natürliche Arzneimittel her. Dabei zehrt er auch vom Wissen, das seine Vorfahren von Generation zu Generation überliefert haben. Er stelle Arzneimittel her „mit Freude zum Wohl der Allgemeinheit und des Einzelnen“, heißt es in der Begründung für seine Nominierung.
Den jemenitischen Juden trennen 84 Jahre von der jüngsten Fackelanzünderin, der Zwölftklässlerin Ofri Butbul aus Ofakim in der Wüste Negev. Die 18-Jährige arbeitet ehrenamtlich für die Organisation „Sahi“. Das Kurzwort steht für den hebräischen Ausdruck „Sajeret Chessed Jichudit“ – „Einzigartige Einsatztruppe der Güte“. Die Schülerin betreut einen alleinstehenden alten Herrn. Während der Corona-Krise stürzte er in seinem Haus, weil er erschöpft war. Sie entdeckte dies, alarmierte die Rettungskräfte und rettete so sein Leben.
Stolze Vertreterin der äthiopischen Gemeinschaft
Die israelische Armee vertritt in diesem Jahr Major Maor Cohen. Er ist seit anderthalb Jahren betraut mit der Rekrutierung von Freiwilligen. In dieser Zeit ist deren Zahl um 25 Prozent gestiegen. Zudem begann er vor zehn Jahren, sich um krebskranke Kinder zu kümmern und abends mit ihnen zu spielen. Dies trug ihm den Spitznamen „Lego-Mann“ ein.
Für die Polizei entzündet eine Frau die Fackel, die im Alter von neun Jahren mit ihrer Familie von Äthiopien nach Israel einwanderte: Kommissarin Eden Tapet Habetinesch. Ende 2000, zu Beginn der „Zweiten Intifada“, wurde einer ihrer Cousins ermordet – Polizeiinspektor Josef Asersa. Das traumatische Ereignis brachte sie dazu, sich für die Grenzpolizei ausbilden zu lassen. Heute ist die 39-Jährige verantwortlich für Polizisten äthiopischer Abstammung. Zudem sorgt sie für die Verbindung zwischen Polizei und äthiopischer Gemeinschaft. Dazu gehörte in der Corona-Pandemie auch Aufklärungsarbeit.
Zippi Harfens wiederum leitet seit acht Jahren die Technologische Amit-Oberschule in Be’er Scheva. Als sich einer ihrer Schüler einer Nierentransplantation unterziehen lassen musste, stand ihm die 44-Jährige zur Seite. Sie übernahm Nachtwachen am Krankenbett. Auf diese Weise sei sie zu einem untrennbaren Teil seiner Familie geworden, teilten die beiden zuständigen Minister mit.
Opfer und Retterin ziehen an einem Strang
Ein brutaler Vorfall brachte zwei 33-jährige Nachbarinnen aus der Negev-Stadt Mitzpe Ramon in Verbindung, die gemeinsam eine Fackel entzünden werden: Schira Iskow wäre am jüdischen Neujahrsfest Rosch HaSchanah im September beinahe von ihrem Mann ermordet worden. Vor den Augen ihres kleinen Sohnes stach er mehrere Male auf sie ein und verwundete sie lebensgefährlich, nachdem sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie endgültig die Scheidung einreichen wolle. Nach der Reha erhob sie ihre Stimme, um auf das verbreitete Problem der Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Im Februar wurde die Ehe geschieden.
Doch Schira Iskow verdankt ihr Leben nicht nur den Ärzten, die ihre schweren Verletzungen behandelten. Ihre Nachbarin Adi Gosi, eine verheiratete Mutter von drei Kindern, schritt ein. Sie brach in die Wohnung ein und riskierte ihr eigenes Leben, um die Schwerverletzte vor weiteren Angriffen zu bewahren. Nun kämpfen die beiden Freundinnen gemeinsam dafür, dass nicht noch mehr Frauen Opfer von Gewalt werden.
Nach Terroranschlägen nicht entmutigt
Gewalt erlebte vor 34 Jahren auch der heute 71-Jährige Abie Moses aus der Siedlung Alfei Menasche in Samaria: Bei einem Brandbombenanschlag verlor er seine Frau Ofra und den fünfjährigen Sohn Tal. Obwohl er selbst Brandblasen am gesamten Körper hatte, gelang es ihm, zwei weitere schwerverletzte Kinder zu retten. Er gehört zu den Gründern einer Organisation, die sich um Opfer von Terror und feindlicher Gewalt kümmert. Seit 30 Jahren hat er ehrenamtlich ihren Vorsitz. In Corona-Zeiten unterstützte er Mitgliedsfamilien mit Lebensmitteln oder auch mit juristischer Beratung.
Ebenso von Terror betroffen ist der 48 Jahre alte Rav Eitan Schnerb. Im August 2019 wurd seine 17-jährige Tochter Rina bei einem Anschlag in Dolev in Samaria ermordet, ihr Bruder erlitt schwere Verletzungen. Der Vater gründete mit Gleichgesinnten die Organisation „Hessed BeLod“ (Güte in Lod). Sie hilft Menschen in Not und verteilt unter anderem Lebensmittel an Bedürftige.
Schlomi Schabat gehört gehört zu den beliebtesten israelischen Musikern. Als der 66-jährige Sänger an Corona erkrankte, bekundeten viele Menschen ihre Anteilnahme. Er genas von der Krankheit. Seine sephardische Familie kam einst aus der Türkei nach Israel, die Musik ist orientalisch geprägt.
Für die Fackel der Diaspora haben die Verantwortlichen Gabriela Shtrigler ausgewählt. Die 19-jährige Mexikanerin engagiert sich in der Freiwilligen Organisation „Shalom Corps“ für die jüdische Gemeinschaft ihres Landes und auch für die gesamte Gesellschaft. 2019 lebte sie mehrere Monate in Israel und leistete humanitäre Hilfe.
Von: eh