Die Gründung Israels hat Generalmajor Orde Charles Wingate nicht mehr erlebt. Und doch dürften viele Israelis an ihn gedacht haben, als im Mai 1948 ihr Traum in Erfüllung ging. Denn ohne den streitbaren Offizier der britischen Armee wäre die Staatsgründung wohl anders verlaufen, als wir heute wissen. Schulen, Straßen und Strandpromenaden tragen in Israel seinen Namen, auch weil Wingate zu jenen wenigen Christen gehörte, die die Notwendigkeit eines jüdischen Staates schon früh erkannt und dafür ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben.
Doch der Reihe nach: Orde Charles Wingate, geboren 1903 in Indien als Sohn britischer Missionare, wurde von seinen Eltern streng christlich erzogen. Sie selbst waren freikirchlich engagiert, so dass der kleine Charles von Kindesbeinen an wusste, dass das Christentum seine Wurzeln nicht in Rom, sondern im heutigen Israel hat. Und auch, dass das Alte Testament das verbindende Glied mit den Juden ist, was später zur Richtschnur seines Handelns wurde.
Kompromisslos stellte sich Wingate als Militär in den Dienst der jüdischen Sache, wohl auch, weil er durch seine Einsätze in muslimisch geprägten Regionen der Welt zu der Überzeugung gelangte, dass der Islam einen ausgrenzenden und gewaltbejahenden Charakter habe. Das, was Teile der modernen Soziologie seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001 als „Kampf der Kulturen“ bezeichnen, hatte Wingate schon in den zwanziger und dreißiger Jahren vorausgesagt. Wingates Auffassung nach würden die Juden in diesem Kampf einen hohen Blutzoll liefern müssen. Dies unterstrich mehr denn je die Notwendigkeit eines eigenen Staates, der ihnen Schutz bot.
„Wingate wurde christlich getauft und jüdisch sozialisiert“, so beschreibt es die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer gegenüber Israelnetz. Dass er später als Militär Karriere machte, war nicht vorherzusehen, aber auch nicht ungewöhnlich. Denn in Wingates Familie gab es eine Reihe erfolgreicher Offiziere, die dem British Empire gedient hatten. Durch ihre Einsätze rund um den Globus wussten sie, was auf der Welt geschah, wo und wie Konflikte entstanden und dass Juden dabei oft die Leidtragenden waren. Dies galt für den Orient ebenso wie für Indien, Russland oder Ostafrika.
Einsatz in Palästina 1936
„Wingate erfuhr eine harte Schulzeit, die er auf strengen Internaten verbrachte“, sagt Krämer. Hart zu sich selbst und Untergebenen zu sein, war sein Credo als Militär, das ihn schon in jungen Jahren bis in den Generalsrang brachte. „Zugleich gaben ihm Eltern und Verwandte ein Weltwissen mit, das für seinen Werdegang bedeutsam wurde“, ergänzt Krämer. Und das wohlgemerkt in einer Zeit ohne Internet, Radio und Fernsehen, als das Wissen der Menschheit sich noch in Büchern verbarg und über Zeitungslektüre vermittelt wurde.
Mit erst 33 Jahren übernahm Wingate einen Offiziersposten im damals zum Empire gehörenden Palästina, das später zur Keimzelle des modernen Israel wurde. Es war das Jahr 1936, als Hitler der Welt im fernen Berlin mit den Olympischen Spielen weismachen wollte, wie weltoffen, friedlich und frei sein Land doch sei und wie wenig speziell die jüdische Bevölkerung darin zu befürchten habe. Doch die politische Propaganda des braunen Diktators beeindruckte die Vordenker und Wegbereiter des modernen Israel nur wenig. Mit Rückendeckung der britischen Regierung baute Wingate zeitgleich in Palästina einen Spezialverband, die Special Night Squads (SNS), auf, die zu einem großen Teil aus jüdischen Kämpfern bestand. Sie sorgte dafür, dass die wachsenden Siedlungen, vor allem in und um Galiläa, vor arabischem Terror verschont blieben.
Doch Wingate war nicht nur Militär. Mehr noch war er ein unbezeichneter Schutzpatron jüdischen Lebens in der sich formierenden jüdischen Gesellschaft Palästinas, die wusste, dass das Land der Väter ihre einzige, wahre Heimat ist und dass ihr Anrecht auf Rückkehr seit der Vertreibung 135 nach Christus durch die Römer niemals erloschen war. Dass die Besiedlung des britischen Mandatsgebietes mit Juden aus aller Welt einem Feldzug gegen die Araber gleichkam, stand zwar in keinem Programm. Doch wurde es angesichts der politischen Realitäten sehr schnell gelebte Wirklichkeit, auf die sich die Bewohner der jüdischen Siedlungen einstellen mussten.
Bürgerkrieg im Mandatsgebiet
„Wenn es um die jüdische Sache ging, kannte Wingate kein Pardon“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin. Mit kompromissloser Härte und Konsequenz ließ der Brite die Araber spüren, dass sie mit ihren Attacken gegen die Keimzellen des späteren Israel dessen Gründung allenfalls verzögern, aber nicht mehr aufhalten konnten.
„Im Grunde tobte in den dreißiger Jahren im Mandatsgebiet ein Bürgerkrieg, bei dem die Briten mehr Zuschauer als Akteure waren und Wingate als eine Art obersten Polizisten bestellt hatten“, führt Puschner weiter aus. Rund zwei Jahre konnte Wingate sein militärisches Können in Palästina unter Beweis stellen. Er galt als versierter, umsichtiger Offizier, harter Ausbilder und legendärer Führer, der wusste, dass Gewalt die einzige Sprache ist, die militante Araber verstehen. Dieses Wissen wurde später zur offiziellen Sicherheitsdoktrin des modernen Israel. Als die SNS 1938 aus innenpolitischen Gründen aufgelöst und Wingate erneut versetzt wurde, dienten sich viele jüdische Kämpfer der Hagana, dem jüdischen Selbstschutz, an. Dort war die Führung über deren militärisches Know-how sehr erfreut.
Hilfreiches Wissen im Unabhängigkeitskrieg
Wie wichtig das von Wingate vermittelte Wissen werden würde, zeigte sich, als Israel kurz nach seiner Staatsgründung im Mai 1948 in Konflikte mit seinen Nachbarn strauchelte; in Kriege, aus denen es ausnahmslos als Sieger hervorging – auch weil seine strategischen Planer bei dem streitbaren britischen Offizier indischer Provenienz in der Lehre gewesen waren und dabei Dinge gelernt hatten, die zur ersten Lebensversicherung ihres jungen Staates wurden.
„Aus der SNS kamen auch wichtige Impulse, die den Aufbau des Mossad begünstigten“, stellt die Historikerin Krämer fest. Schon früh hatte Wingate erkannt, dass er, wenn er als Militär erfolgreich sein wollte, seinen Gegner kennen, ja in ihn kulturell und emotional eindringen musste, um ihn zu besiegen. Bis heute ist das die Maxime, nach der der Mossad weltweit seine Operationen zum Schutze Israels steuert.
In den zwanziger Jahren hatte Wingate mit Unterricht und Abschlussprüfung Arabisch gelernt, was ihn vom Standesdünkel zahlreicher Offizierskameraden unterschied. Diese hielten es nicht für nötig, ja zum Teil gar für unter ihrer Würde, die Sprache der arabischen Bevölkerung zu lernen. Ein Umstand, der sich aufs Ganze gesehen als ein für das Empire höchst destabilisierender Faktor erwies und zugleich dem modernen Israel den Weg wies.
Von: Benedikt Vallendar
Dr. Benedikt Vallendar arbeitet als freier Publizist und ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main. 2004 promovierte er an der FU Berlin im Fach Neuere Geschichte.