Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog proklamiert. 2005 erklärten die Vereinten Nationen ihn zum Internationalen Holocaust-Gedenktag. Er erinnert an die Greueltaten während des Holocausts und die Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz im Jahr 1945.
In Israel gibt es heute noch etwa 170.000 Holocaust-Überlebende. Viele von ihnen leiden unter Altersarmut und unter körperlichen oder seelischen Spätfolgen. Eine davon ist Sara Atzmon. In ihrem Leben musste sie sich immer wieder Therapien unterziehen.
Sara Atzmon, 1933 in Ungarn geboren, lebte mit ihrer Familie in Debrecen. 1944 sollte sie wie alle ungarischen Juden in kurzer Zeit vernichtet werden. Sie überlebte das Durchgangslager Strasshof und das KZ Bergen-Belsen. Im April 1945 befreite die amerikanische Armee Sara Atzmon bei Farsleben in der Nähe von Magdeburg. Da wog sie noch 17 Kilogramm.
Am Holocaust-Gedenktag in Deutschland
Heute lebt sie mit ihrem Mann Uri und ihren sechs Kindern, Enkeln und Urenkeln in der Nähe von Tel Aviv. Auf Einladungen hin besuchte das Ehepaar immer wieder Deutschland um an Feierlichkeiten des Holocaust-Gedenktages teilzunehmen. Noch bis Anfang 2020, kurz vor dem ersten Lockdown, war dies möglich.
Aber nicht nur zu den Feierlichkeiten bereisten sie Deutschland. Nein, ihre Herzenssache war es, der jungen Generation von ihren Erlebnissen zu berichten, und das seit über 30 Jahren. Schüler hörten aufmerksam zu, wenn Sara anfing zu erzählen. Manchmal versuchte sie in Projektgruppen, Schülern das Erlebte, im Modellbau, näherzubringen. Auch Vorträge und Podiumsdiskussionen standen mit auf ihrem Programm, unermüdlich im Kampf gegen das Vergessen. Saras ständiger Begleiter und Unterstützer war und ist ihr Mann Uri. Ein „Sabre“, so sagt man in Israel, ein in Israel geborener Jude. Sein Vater Walter Bein (später änderte er den Namen in Atzmon) kam aus Oberhausen und wanderte 1924 nach Israel ein.
Sara Atzmons Erlebnisse – eine Botschaft für die nachfolgende Generation
Im Jahr 1944 waren bereits viele europäische Juden vernichtet. Um die ungarischen Juden innerhalb weniger Wochen zu vernichten, verlegte man Bahnschienen ganz nah bis zu den Gaskammern. Das sollte Zeit sparen. Somit konnten große Deportationen stattfinden, an manchen Tagen waren es 6 bis 8 Züge. Das bedeutete etwa 20.000 Menschen täglich oder mehr. Rund eine halbe Million ungarische Juden wurden deportiert und ermordet. Darunter waren 60 Familienmitglieder von Sara Atzmon.
Israelnetz: Liebe Sara, kannst du euren Waggon beschreiben, in dem ihr von Ungarn deportiert wurdet? Wie viele Menschen waren im Waggon und wie waren die hygienischen Bedingungen – oder gab es die überhaupt?
Sara Atzmon: In einem kleinen Viehwaggon, gebaut für sechs Pferde, wurden wir eingezwängt mit 96 Personen. Zehn Tage unterwegs ohne Öffnung des Waggons und das im Juni/Juli, es war sehr heiß. Die normale Entfernung von Ungarn nach Polen ist etwa 24 Stunden. Unser Zug wurde aber abseits geleitet und stand dort, an der Grenze zu Polen und Tschechien. In dem Waggon gab es einen Eimer für 96 Personen – das war unsere Toilette. Auf dem Transport war der Eimer immer wieder übergeschwappt, den Gestank kann man nicht beschreiben. Einen anderen Eimer gab es zum Trinken, den hatten wir aber schnell ausgetrunken. Als Essen hatte meine Mutter etwas Gänsefett. Zwischen uns lagen viele Tote, die diesen Transport nicht überlebt hatten.
Unser Zug war nicht in der richtigen Liste eingetragen – Ausschwitz war überbucht. Adolf Eichmann wurde gefragt, wie man mit uns handeln sollte. Er gab die Anweisung, wenn kein Platz in Ausschwitz ist, sollten wir zum Arbeiten nach Österreich geleitet werden!
Sara, 60 deiner Familienmitglieder sind bei diesen Deportationen aus Ungarn ermordet worden. Warst du alleine im Durchgangslager Strasshof, oder waren noch Familienangehörige mit dir, die noch lebten?
Ja, es waren noch Familienmitglieder mit mir, wir konnten zusammenbleiben. Nach zehn Tagen im Waggon sind wir im Durchgangslager Strasshof angekommen. Dort sollten wir drei Tage nackt verbringen. Einige Frauen waren schwanger, einige haben da gestanden mit Blut an den Beinen und auf den Füßen. Unsere Haare wurden geschnitten, SS-Soldaten gingen zwischen uns umher. Danach gab es eine Selektion. Familien mit kleinen Kindern und alte Menschen, denen gab man einen Stempel XX auf ihre Hände und schickte sie nach Ausschwitz, zurück zur Vernichtung. Kinder im Alter von neun oder zehn Jahren und Familien, die konnten arbeiten. Die Kinder waren Arbeitskräfte.
Wir bekamen einen Stempel – G.D. – und man schickte uns zum Arbeiten in die Nähe von Gmünd in Niederösterreich nach Heidenreichstein. Ich arbeitete in der Landwirtschaft, meine Geschwister in einer Zementfabrik. Der Bruder des Bauern war ein hoher SS-Offizier und Bekannter von Adolf Eichmann. Einmal kam der Lagerführer mit einem SS-Offizier, der zeigte auf meine Mutter. Er meinte, sie wolle nicht arbeiten, dabei arbeitete sie schwer. An dem Tag mistete sie den Kuhstall aus. Mit 27 Personen lebten wir in einem kleinen Pferdestall.
Jeden Tag flogen hunderte von amerikanischen Bombern über uns, um Wien und anliegende Städte zu bombardieren. Für uns war es eher Hoffnung.
Eines Tages wurde ich vom Feld gerufen, meinem Vater ging es schlecht. Ich kam gerade rechtzeitig, um ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor er starb. Damals war ich elf Jahre alt. An diesem Tag habe ich ununterbrochen geweint, das letzte Mal für Jahrzehnte.
Was ist mit deinem Vater geschehen? Habt ihr Gefühle oder ein Mitempfinden von Deutschen erlebt, beim Tod eures Vaters?
Ja, meine Mutter hat zu einem SS-Offizier gesagt, dass man in der Jüdischen Tradition zehn jüdische Männer für das Kaddisch-Gebet benötigt. Dieser SS-Offizier brachte uns zehn jüdische Männer aus anderen Arbeitslagern. Dazu hat uns der Bauer den Wagen, aber nicht die Ochsen gegeben. Den Wagen haben wir dann selbst zum Friedhof geschoben.
Am Grab unseres Vaters Israel Gottdiener sagte meine Mutter: „Wir werden seine Knochen zurückholen und auf einem jüdischen Friedhof begraben“. So geschah es 20 Jahre später.
Nachher kam ich nochmal in ein andres Arbeitslager, in eine Fabrik für Fallschirme. Ich arbeitete an einer Maschine, war aber zu klein. Daraufhin wurde ich auf eine Kiste gestellt und musste so stehend an der Maschine arbeiten.
Was ist dann geschehen?
Anfang November 1944, wir sind wieder im Durchgangslager Strasshof. Strasshof war ein Zentrallager, neben der Bahn. Von dort wurden die Flüchtlinge in unterschiedliche KZs aufgeteilt. Es ist Winter und sehr kalt. Wir verbringen wieder drei Tage nackt. Meine Kleidung bekomme ich nicht wieder. Ich erhalte einen roten Kinderschuh und einen schwarzen Frauenschuh mit hohem Absatz. Mit diesen zwei ungleichen Schuhen laufe ich später 7 Kilometer vom Bahnhof ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Bis zur Befreiung, im April 1945, musste ich damit zurechtkommen.
Diese Schuhe spielen im späteren Leben von Sara Atzmon eine zentrale Rolle. Nicht nur, dass sie durch das Tragen der ungleichen Schuhe, durch Kälte, Hunger und Typhus, körperliche Spätfolgen erlitt. Bei ihren Vorträgen in Deutschland zeigte sie Schülern immer wieder ein Musterpaar zur Darstellung. In Israel organisierte eine Lehrerin mit Sara über die Schuhe eine Choreographie: „Der Schuhtanz“.
Bergen-Belsen: Leichen über Leichen. Menschen starben an Seuchen, Hunger, Kälte, Krankheiten. Die Lebenden waren nur noch Skelette, von denen Tausende auch nach der Befreiung starben. Unglaubliche Bilder boten sich den Engländern bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen Belsen am 15. April 1945.
Sara, wann seid ihr nach Bergen-Belsen transportiert worden und unter welchen Verhältnissen habt ihr dort gelebt?
Am 2. Dezember 1944 wurden wir nach Bergen-Belsen transportiert. Wir kamen in die Baracken für die ungarischen Juden. Eingezäunt lebten wir mit 400 bis 500 Personen zusammen. Auf der anderen Seite waren die holländischen Juden, darunter war auch Anne Frank, zur gleichen Zeit.
Jeden Tag haben wir zwei bis fünf Stunden in der Kälte Appell stehen müssen. Es wurde gezählt, jede Person, es waren Tausende. Beim Verzählen gab es eine Neuzählung. Meine Füße waren verfroren, ich dachte, meine Finger werde ich verlieren.
Einmal pro Woche bekamen wir für elf Personen einen Laib Brot aus Sägemehl. Mein Bruder schnitt uns jeden Tag eine Scheibe ab. In der Suppe war manchmal ein Stück Fleisch. Später habe ich erfahren, es war Menschenfleisch. Vor Hunger wurde gestohlen, auch die Ratten haben uns das Brot gestohlen. Unter uns war Typhus. Ein halbes Jahr konnten wir uns nicht waschen, wir waren in Lumpen und völlig verlaust. Als unsere Mutter uns einmal waschen wollte, waren die Rohre zugefroren. Leere Dosen benutzten wir als Toiletten und entleerten diese im Schnee.
Die Menschen sind wie die Fliegen gestorben, sie waren nackt und Skelette. Wir haben gewettet, wer wird morgen sterben, wer übermorgen? Die jungen Männer haben von den Leichen Fleischstücke abgeschnitten und gegessen. Es ist nicht vorstellbar, was da war: die vielen Leichen, Menschen nur noch als Skelette. Der Geruch und Hunger, Kälte, Angst und Krankheiten.
Sie haben versucht, die Leichen zu verbrennen. Es waren zu viele Leichen, das Krematorium hat es nicht geschafft. So hat man zusätzlich, außerhalb des Krematoriums, die Leute verbrannt. Zum Brennen wurde eine Reihe Holz gelegt und darauf eine Reihe Leichen, der Geruch war unvorstellbar – verbranntes Menschenfleisch.
Nach der Befreiung von Bergen-Belsen versuchte man mit Bulldozern die Tausende von Leichen zu begraben. Die Engländer haben das Lager später verbrannt, wegen Seuchengefahr. Sara, du warst bei der Befreiung nicht im KZ Bergen Belsen, wo warst du und deine Familie, wie wurdet ihr befreit?
Am 6. April 1945 mussten wir wieder zum Bahnhof marschieren. Wir sahen schon wie Skelette aus. Kurz vor der Befreiung gab es drei Züge, die an die Kriegsfront transportiert werden sollten. In einem war ich mit meiner Familie. Über uns flogen amerikanische Bomber und bombardierten uns. Sie wussten nicht, wer in den Zügen war. Unser Zug fuhr in den sechs Tagen hin und her, nur 100 Kilometer, bis er bei Farsleben anhielt. Es gab heftige Gefechte zwischen den Deutschen und Amerikanern. Die Deutschen flüchteten und ließen den Zug stehen.
Ein SS-Offizier sagte noch, dass der letzte Waggon voll mit Sprengstoff sei. Anscheinend war geplant, unseren Zug in die Luft zu sprengen. Wir versuchten, diesen Waggon wegzuschieben.
Am nächsten Morgen kamen zwei amerikanische Panzer und haben uns befreit. Die amerikanischen Soldaten waren schockiert, in welchem Zustand sie uns vorfanden. Sie gaben uns zu essen, unsere Mägen konnten das nicht aufnehmen. Durch den Hunger und Typhus waren viele krank, wurden noch kränker und starben. Die Amerikaner errichteten sofort ein Lazarett und gaben uns Medikamente, dadurch retteten sie Leben.
Sara, heute lebst du in Israel, beim Aufbau des Landes hast du mitgeholfen und eine eigene große Familie gegründet. Kannst du den Weg nach der Befreiung schildern?
Die Amerikaner schlugen uns vor, nach Amerika, Ungarn oder ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina einzuwandern. Meine Familie entschied sich für Palästina. Drei Monate später sind wir über Neapel, mit einem Flüchtlingsschiff, eingereist.
Malen als Therapie?
Sara hat im Alter von 50 Jahren angefangen zu malen. Zuerst Blumen und Vasen, dann Bilder über ihre Erlebnisse – meterhohe Kunstwerke. Sehr schnell folgten Ausstellungen: in Yad Vashem, dem israelischen Parlament, in Deutschland und weltweit. Bis heute gab es über 300 Kunstausstellungen ihrer Gemälde. Einige stehen noch in Bergen-Belsen.
Sara, kannst du für dich sagen, dass dir das Malen und die Kunst beim Verarbeiten deiner Erlebnisse geholfen haben? Es ist kein Hass in dir.
Ja, das Malen war Therapie, und unsere Mutter hat uns gelehrt, nicht zu hassen und das Herz freizuhalten.
Sara und Uri, zum Schluss die Frage: Welche Botschaft gebt ihr an die nachfolgende Generation weiter?
Wir sollten uns miteinander respektieren und täglich achtgeben, wenn Unrecht geschieht, nicht wegsehen.
Vielen Dank, liebe Sara und Uri, für dieses offene Gespräch und das sehr persönliche Teilhabenlassen. Herzlich Schalom.
Die Fragen stellte G. Wedel