In seinem geräumigen Wohnzimmer steht Asriel Simchoni vor einem großen Bücherregal: „Irgendwo hier muss er sein, der Koran.“ Der religiöse Jude sucht zwischen den zahlreichen Kommentaren jüdischer Gelehrter. Im obersten Regal wird er schließlich fündig. „Mein Vater hat Bücher geliebt. Er hat mir auch dieses Buch geschenkt. Schau, hier siehst du es: ‚Der Koran, aus dem Arabischen ins Hebräische übersetzt von Josef Rivlin‘, dem Vater unseres heutigen Präsidenten.“ Freudig schlägt er das Buch auf und liest daraus vor. Dazu erklärt er: „Im Gegensatz zu den Eltern vieler meiner Freunde hat mein Vater uns nicht verboten, im Koran oder im Neuen Testament zu lesen.“
Diese Prägung kommt ihm heute zugute: Simchoni lebt in der Siedlung Ofra, die in unmittelbarer Nähe der arabischen Ortschaften Ejn Jabrud und Silwad liegt. Er ist ein Siedler der ersten Stunde. Geboren ist Simchoni 1946 im Jerusalemer Buchari-Viertel, einem der ersten Viertel außerhalb der Altstadtmauern. „Ich bin die vierte Generation im Land und gehöre zu den Sepharden“, den orientalischen Juden. Als sein Urgroßvater in den 1880er Jahren aus Turkmenistan ins verheißene Land kam, zählte er zu den Gründern des Buchari-Viertels. „Bis heute ist das von ihm gebaute Gebäude sehr präsent im Viertel und beherbergt eine der größten jüdischen Hochschulen, die Kamnitz-Jeschiva.“
Dass Simchoni religiöser Jude ist, wird bereits an seinem Hauseingang deutlich. In Stein gehauen sind die Worte aus Psalm 135: „Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte“. Weitere Bibelverse sind in großen Lettern an den Wohnzimmerwänden angebracht. Selbst ist Simchoni noch nie im Ausland gewesen, bringt aber eine große Offenheit für seine Mitmenschen und Andersdenkende zum Ausdruck: „In den zwei Jahren vor unserer Bar Mitzva ging mein Vater mit mir und meinen Geschwistern an jedem Schabbat in eine andere Synagoge in den Gottesdienst. Wenn mir der Gottesdienst irgendwo nicht gefiel, sagte mein Vater: ‚Dann gehen wir dort nächste Woche nochmal hin.‘ Manchmal hatten wir weit zu laufen, aber dadurch habe ich einen großen Weitblick bekommen.“
Sephardisch-aschkenasische Ehe
Als Asriel 1973 Varda, eine Jüdin mit nordeuropäischen Wurzeln, heiratete, war es trotzdem nicht immer einfach. Sie erzählt: „Weitgehend habe ich die Bräuche der Sepharden übernommen, aber natürlich war es vor allem anfangs nicht immer einfach, dass ich Aschkenasin war und er Sepharde. Heute bin ich aber in jeder Hinsicht eine Sephardin.“ Ihr Mann wirft lachend ein: „Zumindest fast. Denn du gehst in eine aschkenasische Synagoge.“ Ernster fügt er hinzu: „Aber, Gott sei Dank, unsere Tochter ist mit einem Jemeniten verheiratet und unser Sohn mit einer Aschkenasin. Wir wollen jedem Menschen mit Offenheit begegnen, ganz gleich seiner politischen oder religiösen Ausrichtung.“
Asriel berichtet: „Nach unserer Hochzeit zogen wir nach Kiriat Jovel. Aber schon bald wollten wir nicht mehr in der Stadt wohnen und suchten nach einem Jischuv. Als ich 1975 zum ersten Mal nach Ofra kam, gab es hier keine Erde. Nur Felsen. Es war so unheimlich still wie auf einem Friedhof. Man könnte fast sagen, es war eine ohrenbetäubende Stille, es gab keine Bäume, nicht einmal Vogelgezwitscher.“
Ein kahles Land
„Als ich nach Ofra kam, wohnten etwa 15 Familien hier. Wir begannen, mit LKW Erde heranzukarren. Zunächst kam ich einmal die Woche als Freiwilliger, um Wache zu halten. Am 19. Februar 1976 zogen wir dann nach Ofra. Ich erinnere mich an diesen Tag, als wäre es mein Geburtstag. Varda war schwanger mit unserem ersten Kind, der Jischuv war wenige Monate alt.“ Simchoni strahlt, wenn er sich an diese Gründerzeit erinnert: „Als mein Vater uns hier im Februar 1976 zum ersten Mal besuchte, war er so glücklich! Es war, als wären ihm Flügel gewachsen.“ Er geht mit großen Schritten durchs Wohnzimmer: „So ging er über diese Erde. Er sagte mir: ‚Dein Urgroßvater war ein Pionier und nun bist auch du Pionier, weil du außerhalb von Jerusalem siedelst.‘“
Heute hat Ofra rund 4.000 Einwohner. Der Ort ist knapp 30 Kilometer nördlich vom Jerusalemer Stadtzentrum gelegen, direkt an der Straße 60, die das nördliche Westjordanland mit der Hauptstadt verbindet. Die Atmosphäre ist idyllisch, Kinderlachen allgegenwärtig. Es gibt mehrere Kindergärten und Grundschulen, sogar eine weiterführende Mädchenschule. „Ursprünglich war Ofra das Lager für die jordanische Legion“, erzählt Asriel über die Zeit vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967, als Jordanien das Gebiet kontrollierte. „Das Tal neben dem Tel Chatzor, wo das Militär stationiert war, hatte einen großen Vorteil: Man konnte die Straße entlangfahren, ohne dass man die Militärbasis sehen konnte. Die Jordanier hatten Häuser gebaut, sie aber nie fertiggestellt, sodass niemand drin gewohnt hatte. Wir jungen Israelis bezogen nun diese halbfertigen Bauten, in denen der Fußboden aus Felsen bestand.“
Simchoni tritt vor die Tür und zeigt auf den gegenüberliegenden kahlen Hügel: „Schau, genauso sah Ofra damals aus.“ Es habe einen beduinischen Wächter gegeben, der war noch von König Hussein aus Jordanien eingesetzt. Das Dorf war voller Müll und Gestank. „Als wir kamen und aufräumten, freuten sich die Beduinen aus der Gegend.“ Varda erzählt: „Zu den Beduinen hatten wir gute Beziehungen. Wir kauften bei ihnen ein. Sie begrüßten uns stets und waren sehr herzlich.“ Lange sei es überhaupt nicht klar gewesen, ob „das Siedlungsprojekt“ weitergehen könne. „1977, als Schimon Peres übergangsweise Premierminister war, gingen einige von uns zu ihm, um seine Erlaubnis einzuholen. Er gab keine Erlaubnis, hinderte aber auch nicht am Weiterbau. Wahrscheinlich wollte er sich nicht unbeliebt machen und dachte, wir würden den schwierigen Lebensbedingungen ohnehin nicht lange standhalten.“
Respekt für die Nachbarn
Wenn Simchonis an die ersten Jahre in der Siedlung denken, denken sie immer wieder auch an die guten Beziehungen zu den arabischen Nachbarn: „Wir bauten im Ort eine Feldschule auf, ein Programm, für das Schüler zu uns kommen, um eine praktische Ausbildung als Ergänzung zum theoretischen Unterricht zu erhalten. Uns war wichtig, dass die Schüler lernten, Rücksicht auf ihre Umwelt zu nehmen. Zum Beispiel durften sie niemals die bestellten Felder betreten oder die Früchte der Araber pflücken. Bei uns lernten sie auch, auf die Friedhöfe der umliegenden Beduinenstämme achtzugeben, die für ungeübte Augen oft nicht erkennbar sind. Die Araber achteten uns dafür. Oft luden sie uns auf einen Kaffee ein.“
Asriel erinnert sich gern an die Zeit: „Oft kamen sie, um uns Trommeln, Zupfinstrumente, selbstgebaute Flöten oder anderen Krimskrams anzubieten. Unsere Leute kauften das gerne.“ Damals sei die Atmosphäre eine andere gewesen, die Beziehungen freundschaftlich. „Ich weiß nicht, ob sie uns wirklich mochten“, sinniert Asriel. „Aber sie waren immer freundlich und immer wieder hörten wir von Arabern, die sagten: ‚Es ist Gottes Wille, dass ihr auf diesem Land wohnt. Er hat euch diese Erde gegeben. Es ist gut, dass ihr hier seid.‘“
Sie hatten einen Wächter, aber eigentlich nie wirkliche Grenzen. Wie in allen Siedlungen üblich, ist auch Ofra heute umzäunt und die Einfahrt nur durch eine Schranke möglich. „Damals kamen die Araber, um in unserem kleinen Laden einzukaufen. Wir lernten von ihnen und sie von uns. Wir kannten uns mit Namen. Die Probleme begannen dann nach einigen Jahren, als Juden, die dafür bezahlt wurden, zu den Arabern kamen und ihnen sagten, wir Siedler hätten ihnen ihr Land weggenommen. Plötzlich redeten auch unsere arabischen Nachbarn von der ‚Besatzung‘. Die, die am lautesten von Menschenrechten redeten, säten eigentlich Zwietracht.“
Asriel ist zwar Landwirt, arbeitete aber viele Jahre auf dem Bau. Auch dort hatte er zahlreiche Kontakte zu Arabern. „Ich stellte fest, dass Arabisch viele Parallelen zu Hebräisch aufweist, also lernte ich etwas Arabisch. Durch die Sprache bekam ich eine Verbindung zu den Menschen. Ich fragte sie auch immer wieder nach neuen Wörtern, das brachte mir Respekt ein. Wir aßen gemeinsam, auch das hat Gemeinschaft geschaffen.“
Araber auf Suche nach einem Schwiegersohn
Varda erinnert ihren Mann lachend an einen der Arbeiter aus Bethlehem: „Erinnerst du dich, dass er dir deine Tochter zur Frau geben wollte?“ Asriel erzählt: „Da war diese große Baustelle. Wir waren etwa 400 Arbeiter. Und eines Tages lud mich der Vorarbeiter zum Kaffee ein und sagte: ‚Ich habe dich beobachtet. Du bist ein guter Mann. Ich möchte, dass du meine Tochter heiratest.‘ Ich wusste, das ist eine große Ehre. Aber es war mir unangenehm, ich war doch längst verheiratet! Also sagte ich ihm: ‚Aber hier sind so viele Muslime. Ich bin Jude. Warum willst du ausgerechnet mich zum Schwiegersohn?‘ Er sagte: ‚Wo ist das Problem: Ich glaube an Muhammad und du an Mosche. Aber wir beide essen kein Schweinefleisch. Ich sehe, wie du mit den Menschen hier umgehst. Du bist ein guter Mann.‘ Ich versuchte nochmals abzulehnen: ‚Aber ich bin doch schon verheiratet!‘ Da sagte er: ‚Na und? Bist du Sepharde oder Aschkenase? Ihr Sepharden habt doch keinen Rabbi Gerschom, der euch verboten hätte, mehr als eine Frau zu nehmen.‘“
Dieser Mann habe recht gehabt: „Mein eigener Urgroßvater hatte mehrere Frauen. Ich war fasziniert, dass dieser Araber so viel über uns wusste! Er arbeitete als Steinmetz und war ein sehr fleißiger Mann. Ich fragte ihn, warum er diese schwere Arbeit tue. Er sagte mir: ‚Ich bin ein vermögender Mann. Ich habe Geld, Land, einen Laden, einen LKW und vermiete Häuser. Aber ich weiß, dass ich, wenn ich nicht mehr arbeiten würde, sterben würde.‘ Mir hat diese Arbeitsmoral stark imponiert.“
Varda ergänzt: „Natürlich war zwischen uns Juden und den Arabern nicht immer alles einfach. Aber wir haben immer wieder erlebt: Ein Zusammenleben ist möglich.“
Vom Wehrdorf zum Friedenshindernis
Zwischen 1950 und 1967 war das biblische Kernland Judäa und Samaria von Jordanien annektiert – die Völkergemeinschaft akzeptierte dies nie. Im Sechs-Tage-Krieg eroberte Israel dieses Land – nach und nach begannen Juden dort zu siedeln. Deutsche Leitmedien wie „Spiegel“ und „Zeit“ bezeichneten die Ansiedlungen zunächst verständnisvoll als „Wehrdörfer“ und berichteten durchweg positiv über sie und ihre Bewohner, die „Neuzeit-Pioniere“. Israel habe die Argumente auf seiner Seite, notierte etwa die „Zeit“ im September 1967, „solange arabische Nationalisten weiterhin den revolutionären Volkskrieg predigen, solange weiterhin Bombenleger und Hammeldiebe Israels Grenzen unsicher machen“. Seit Ende der 70er Jahre werden die Siedlungen in der europäischen Presse fast durchweg als „Friedenshindernis“ bezeichnet. Juden verwenden oft den neutralen Begriff „Jischuv“, „Ansiedlung“.
Von: mh
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