Gottes Gebote haben für gläubige Juden eine hohe Bedeutung. Viele Bibelverse betonen dies. In Psalm 119,72 heißt es etwa: „Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber als viel tausend Stück Gold und Silber.“ Schwerer noch wiegt der Schutz menschlichen Lebens. Das zeigt sich auch angesichts der Corona-Krise: Synagogen in Israel wie in Deutschland blieben wochenlang geschlossen, an Pessach galten viele Einschränkungen – und es gab kaum Proteste dagegen.
Der dahinter stehende Grundsatz heißt „Pikuach Nefesch“, also „Wachen über die Seele“ oder „Aufsicht über die Seele“. Demnach hebt Lebensgefahr alle Gebote auf. Drei Ausnahmen hat die Regel allerdings: Götzendienst, Blutvergießen (also Morden) und verbotene sexuelle Beziehungen sind auch bei Lebensgefahr nicht erlaubt. Der einstige israelische Oberrabbiner Israel Meir Lau sagte einmal mit Bezug auf die 613 Ge- und Verbote in der Tora: „Alle anderen der 613 Mizvot sind zweitrangig, wenn sie in Konkurrenz zur Heiligkeit des Lebens stehen.“
Der Zentralrat der Juden in Deutschland veröffentlichte Informationen zu den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Darin heißt es: „Wir alle haben nicht nur die Verantwortung, sondern die Pflicht, uns selbst und unsere Mitmenschen zu schützen.“ Juden seien angehalten, ihre religiösen Pflichten nicht in den Synagogen, sondern zu Hause auszuüben. „Da das Gebot von Pikuach Nefesch, der Pflicht, Leben zu retten, andere Gebote der Tora außer Kraft setzen kann, ist es Pflicht, sich an die Vorgaben zur Sicherung der Gesundheit zu halten.“
Auf besondere Zeiten mit besonderen Regeln reagieren
Des Weiteren verwies der Zentralrat auf den talmudischen Grundsatz „Dina DeMalchuta Dina“. Das ist aramäisch und bedeutet: „Das Gesetz des Landes ist das Gesetz“. Er „verpflichtet uns, den staatlichen Vorgaben Folge zu leisten, sofern sie nicht massiv gegen die Weisungen der Tora verstoßen“, merkte das Leitungsgremium an. „Dies heißt nicht, dass keine Kompromisse ausgehandelt werden dürfen. Die Tora verlangt von uns, auf besondere Zeiten mit besonderen Regeln zu reagieren.“
Dem Prinzip Pikuach Nefesch liegt vor allem ein Bibelvers zugrunde: „Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR.“ (3. Mose 19,16b). Dass das Leben eine hohe Bedeutung hat, schließen Ausleger ferner aus 3. Mose 18,5: „Darum sollt ihr meine Satzungen halten und meine Rechte. Denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben; ich bin der HERR.“
Ursprung: Makkabäer mussten am Schabbat kämpfen
Deshalb dürfen Juden etwa am Schabbat arbeiten, wenn es der Lebenserhaltung dient. Dies lässt sich auf die Makkabäeraufstände im 2. vorchristlichen Jahrhundert zurückführen. In jener Zeit hatten griechische Seleukiden den Jerusalemer Tempel entweiht und dem Gott Zeus geweiht. Viele Juden schlossen sich den heidnischen Bräuchen an. Doch eine Schar Aufständischer unter Mattatias und später dessen Sohn Judas Makkabäus versuchte, die heilige Stätte zurückzuerobern. Dies gelang schließlich 164 vor der Zeitrechnung. Bis heute feiern Juden zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des Tempels das Chanukkafest.
Das 1. Makkabäerbuch schildert, wie gesetzestreue Juden am Schabbat von Heiden angegriffen wurden und sich nicht wehrten. Viele wurden deshalb getötet. Dann heißt es im Text (2,39–41): „Als Mattatias und seine Freunde das hörten, hielten sie die Totenklage über sie und sagten zueinander: Wenn wir alle wie unsre Brüder handelten und uns nicht gegen die Heiden wehrten, um unser Leben und unsere Rechtsordnungen zu retten, so werden sie uns bald von der Erde vertilgt haben. Und am selben Tag beschlossen sie: Wenn man uns am Sabbat angreift, so wollen wir uns wehren, damit wir nicht alle umkommen wie unsere Brüder, die in den Höhlen gestorben sind.“
Lebensgefahr hebt also den Schabbat auf – wobei sich nicht alle Juden darüber einig sind, ab wann Leben wirklich gefährdet ist. Das gilt sogar bei einer geringen Chance auf Heilung. So dürfen Juden am wöchentlichen Feiertag ein Medikament besorgen, das nur in wenigen Fällen hilft oder an dessen Wirkung Zweifel bestehen. Darauf weist etwa die hebräische Webseite „yeshiva.org.il“ hin. Im Babylonischen Talmud (Traktat Joma 85b) steht bezüglich eines Kranken geschrieben: „Entweihe seinetwegen einen Schabbat, damit er viele Schabbate halten wird.“ Der Patient soll also noch lange leben, damit er in Zukunft viele Gelegenheiten hat, den Feiertag zu heiligen.
Pikuach Nefesch gilt aber auch, wenn der Gerettete den Schabbat nicht halten wird. Selbst um einen Bewusstlosen, der im Sterben liegt, sollen sich Juden bemühen – um ihn wenigstens noch eine Stunde am Leben zu erhalten. Wer sich in Lebensgefahr befindet, darf zum Krankenhaus gebracht werden. Auch ist es erlaubt, einen Arzt zu holen. Dasselbe gilt für alles, was den Schmerz lindert, auch wenn die Verletzung dadurch nicht heilt – weil der Patient dann mehr Kraft hat, die Krankheit zu überwinden. Ist jemand ernsthaft erkrankt, so sollen Juden gleichwohl alles Mögliche vor Beginn des Feiertags vorbereiten – etwa Pflaster und Binden zurechtschneiden.
Regeln für Schwangere und Ungeborene
Eine Hochschwangere soll vor dem Schabbat eine Tasche für das Krankenhaus packen. Sie muss aber nicht die Schabbate in den letzten Wochen vor dem Geburtstermin in der Klinik verbringen, um eine etwaige Fahrt am Feiertag zu verhindern. Sogar ein Embryo im Mutterleib profitiert von Pikuach Nefesch, selbst wenn er jünger ist als 40 Tage. Dieser Zeitpunkt wird im Judentum als der Beginn des Lebens betrachtet.
Die „Virtuelle Jüdische Bibliothek“ spricht ferner das Thema Organspende an. Auch diese ist am Schabbat erlaubt. Dasselbe gilt für Reisen, die der Lebensrettung dienen. Der Schutz bezieht sich ebenso auf den Großen Versöhnungstag Jom Kippur: Kranke dürfen an diesem Tag nicht fasten, sofern es ihrer Genesung schadet. Und ein Patient darf Speisen zu sich nehmen, die nicht koscher sind, wenn diese lebensnotwendig sind für die Heilung.
Lebensrettung wichtiger als Züchtigkeit
Beim Schlesinger-Institut für medizinisch-halachische Forschung in Jerusalem können Juden im Internet Fragen zur Medizinethik stellen. Halacha ist das jüdische Gesetz. Zum Thema „Züchtigkeit bei der Ersten Hilfe“ fragte ein Mann: „Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs besucht. Wenn ich durch die Straße gehe und ein Mädchen sehe, das das Bewusstsein verloren hat, was soll ich tun – sie behandeln oder sie aus Gründen der Züchtigkeit nicht behandeln?“ Strenggläubige Juden sollen Frauen, mit denen sie nicht in einem engen Verwandtschaftsverhältnis stehen, möglichst nicht betrachten, geschweige denn berühren.
Die Antwort von Rabbiner Mordechai Halperin ist deutlich. Er zitiert aus dem Jerusalemer Talmud, Traktat Sota 20a: „Es geht um einen fanatischen Frommen, der zu sehr frömmelt, selbst wenn seine Frömmigkeit ihm oder einem anderen Schaden zufügt … wie zum Beispiel einer, der eine Frau im Fluss ertrinken sieht und sagt: Ich steige nicht hinab, um sie zu retten, damit ich nicht ihre Nacktheit sehe, oder der ein Kleinkind im Fluss Blasen bilden sieht (weil es am Ertrinken ist) und sagt: Ich werde erst die Gebetsriemen ablegen, bevor ich hineingehe.“
Dazu schreibt der Rabbi: „Es ist durchaus angemessen, sich zu bemühen, sich während der Behandlung ausschließlich auf die Rettung des Mädchens zu konzentrieren. Aber es ist verboten, dass dieses Bemühen die Rettung verhindert, zu der der Gläubige verpflichtet ist.“
Pikuach Nefesch hebt in der jüdischen Tradition also nicht nur den Schabbat auf. Lebenserhaltung ist auch wichtiger als das Fasten an Jom Kippur, die koschere Ernährung oder die Regeln der Züchtigkeit. Die meisten Juden haben deshalb akzeptiert, dass die Synagogen wegen der Corona-Pandemie über mehrere Wochen verschlossen waren. Und sie freuen sich umso mehr, dass Versammlungen nun wieder weitgehend möglich sind.
Von: Elisabeth Hausen