BERLIN / JERUSALEM (inn) – Die Städte Berlin und Tel Aviv sind „zwei Blasen, die mehr miteinander zu tun haben als mit den jeweiligen Ländern“. Diese Ansicht vertrat die Nahost-Korrespondentin der Tageszeitung „Die Welt“, Christine Kensche, am Donnerstagabend in einem Videogespräch. Anlass war das 55-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel.
Kensches Gesprächspartner war der Journalist Assaf Uni. Er ist Europa-Korrespondent der englischen Ausgabe des israelischen Wirtschaftsmagazins „Globes“ und lebt in der Bundeshauptstadt. Der Israeli stimmte seiner deutschen Kollegin zu: „Berlin ist in der israelischen Vorstellung etwas anderes als Deutschland.“
Freunde wollten Kensche aus Furcht nicht besuchen
Das englische Gespräch wurde auf der Facebookseite der israelischen Botschaft übertragen. Die Moderation hatte die Pressesprecherin von „Israel in Deutschland“, Shir Gideon. Sie fragte die beiden Korrespondenten nach deren Eindrücken vom jeweils anderen Land. Kensche sagte, sie nenne gegenüber Israelis, die nach ihrer Herkunft fragen, lieber Berlin als Deutschland. Anfangs sei sie überrascht gewesen von den positiven Reaktionen. Viele Israelis hätten ihr erzählt, dass sie schon Berlin besucht hätten oder dort Freunde hätten.
Als sie deutsche Freunde nach Tel Aviv einlud, stieß sie nach eigener Aussage auf zurückhaltende Reaktionen. Sie hätten nicht kommen wollen, weil es in Israel zu gefährlich sei. Als dann doch Besucher kamen, wollten sie aus Angst keinen Bus vom Flughafen nach Tel Aviv nehmen. Doch Kensche habe sie nicht abholen können, weil an dem Abend Donald Trump seine Rede halten sollte, in der er Jerusalem zur israelischen Hauptstadt erklärte.
Sie habe die Gäste dann nach der Arbeit entspannt in ihrem Lieblingscafé angetroffen, wo sie schon Israelis kennengelernt und Verabredungen getroffen hätten. Ihre Freunde seien begeistert gewesen und hätten so bald wie möglich wiederkommen wollen, erzählte die Journalistin. Tel Aviv habe die Vorstellung von einem Israel im dauerhaften Kriegszustand verändert.
Als Enkel von Scho’ah-Überlebenden in Berlin
Für Uni wiederum hat sich in Berlin die Vorstellung herausgebildet, dass „Israel aus Europa kam“. Im deutschsprachigen Raum lägen die Wurzeln des Zionismus. Aber: „Israel ist etwas Neues“. Um die belastete Geschichte habe er sich in seiner ersten Zeit in der deutschen Hauptstadt nicht gekümmert. Doch dann sei ihm bewusst geworden: „Jeder Israeli, der nach Deutschland kommt, trägt die Geschichte des Holocaust in sich.“
Die Großeltern des „Globes“-Korrespondenten haben die Scho’ah überlebt, ihre Familien wurden in Polen und der Ukraine ermordet. Als ihm die Verbindung bewusst wurde, sei er sehr wütend geworden. Er habe plötzlich überall Zeugnisse der Nazizeit gesehen, und wenn es nur die „geraden Bäume“ gewesen seien. Doch der Fokus habe sich mittlerweile verändert.
Kensche nimmt in Israel viel deutsche Kultur wahr. Einmal suchte ein Israeli per Facebook eine Person, die seiner Mutter deutsche Texte vorlesen könnte. Sie besuchte die Familie und fühlte sich wie in einem deutschen Haus. „Aber natürlich liegt immer der Schatten des Holocaust darüber.“ Manchmal treffe sie Überlebende, die sagten: „Ich kann auch Deutsch, zum Beispiel: Achtung!“ Deshalb sei sie meist nicht so froh, wenn sie deutsche Verbindungen sehe.
Auf die Frage der Moderatorin, wie sie die Vergangenheit und die lange Geschichte Israels empfinde, antwortete Kensche: „immer noch überwältigend“. Im Religionsunterricht in Deutschland sei das alles weit entfernt gewesen. An ihrem ersten Weihnachtsfest im Land sei sie mit evangelischen Christen von Jerusalem nach Bethlehem gewandert. Der Weg sei nicht schön, er führe an einer Schnellstraße entlang, Müllautos seien vorbeigefahren. Der Pfarrer habe darauf hingewiesen, dass es auch für Maria und Josef kein schöner Weg gewesen sei. Sie finde es gut, zu sehen, „dass diese Orte existieren und noch da sind“.
Voneinander lernen in Corona-Zeiten
Ein weiteres Thema waren Veränderungen in der Gesellschaft, die Journalisten in ihren Beiträgen aufgreifen. Dazu verwies Kensche auf die Digitalisierung, die in Corona-Zeiten eine besondere Rolle eingenommen habe. Auf dem Gebiet sei Deutschland im Vergleich zu Israel „Lichtjahre zurück“. So komme die Deutsche Telekom in die israelische Stadt Be’er Scheva, um in dem Bereich dazuzulernen. In dem Fall trete Israel als Startup-Nation hervor, es gehe nicht um die Geschichte.
Uni stimmte zu, dass die Corona-Krise ein gutes Beispiel sei. Er habe für sein Wirtschaftsmagazin viel darüber berichtet, wie Deutschland mit der Krise umgeht. Jede Idee könne dabei hilfreich sein, in Deutschland gebe es viele gute Entwicklungen. So habe sich „Globes“ etwa mit dem deutschen Modell zum Arbeitslosengeld und dem Soforthilfepaket befasst. Dadurch sei Druck auf die israelische Regierung möglich gewesen, etwas ähnliches zu tun. Der Korrespondent betonte die wichtige Rolle der Medien.
Geopolitik und Annexionspläne veranschaulichen
Moderatorin Gideon fragte Uni ferner, welche Kontexte er israelischen Lesern erklären müsse. Dieser nannte einen Unterschied: Israel sei viel weniger an ausländischen Nachrichten interessiert als Deutschland. Journalisten hätten das Ziel, ihre Leser mit der jeweiligen Geschichte in Verbindung zu bringen. So befasse er sich gerade mit Deutschland und Geopolitik, dabei müsse er die deutsche Position in der Welt erklären.
Kensche sagte, sie würde gerne viel reisen und die Leser mitnehmen. Als Beispiel nannte sie die Annexion. Viele fragten: „Warum geben sie nicht den Palästinensern Land, und dann ist Friede?“ Man könne über die Sicherheitsinteressen der Israelis schreiben. Besser sei es jedoch, nach Jerusalem zu gehen und zu zeigen, wie nah der östliche Teil der Stadt am westlichen ist – dass also das Land klein und eng sei. Dann werde die Frage „wie kann man sicherstellen, dass alle Sicherheitsinteressen gewahrt werden?“ konkreter. Offenbar hält sich die Vorstellung, dass Ost- und Westjerusalem weit auseinanderliegen. In diesem Sinne versuchen auch israelische Politiker, die Verhältnisse durch Besuche vor Ort zu vermitteln.
Demut als wichtiger Faktor
Begeistert sind beide Korrespondenten von einem Austauschprogramm, bei dem sie im jeweils anderen Land in einer Redaktion mitarbeiten konnten: den „International Journalists‘ Programmes“. In diesem Zuge war Kensche eine Zeitlang bei der israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“. Uni sammelte in der „Welt“-Redaktion Auslandserfahrung.
Kensche hält ein solches Programm auch deshalb für wichtig, weil Deutsche „notorisch Israel kritisieren“. Sie riet jedem, das Land zu besuchen, und am besten mehr als einmal. „Je länger ich hier bin, desto verwirrter werde ich und desto weniger verstehe ich“, betonte sie. Wichtig sei es, demütig zu sein und zu versuchen, die Hintergründe zu verstehen. Dabei dürfe aber niemand denken, er habe schon alles mitbekommen. Mit Bezug auf Israel gelte das Prinzip des lebenslangen Lernens.
Von: eh