Sogar in diesem Jahr, in dem aufgrund der Corona-Krise viele Dinge anders gehandhabt werden als in anderen Jahren, prägen das Jerusalemer Stadtbild seit dem Pessach-Fest ungewöhnlich viele Bartträger. Grund dafür ist die Omer-Zählung. Omer ist die hebräisch-biblische Bezeichnung für die Garben bei der ersten Ernte im Frühling. Wie in 3. Mose 23,9–11 beschrieben, wurden diese Garben auch als Opfer in den Jerusalemer Tempel gebracht. Der Tempel ist zerstört, trotzdem zählen Juden nach wie vor die 49 Tage, die zwischen Pessach und Schawuot, dem Wochenfest, liegen.
Pessach gilt nach biblischen Berichten auch als das Dankfest für die ersten Früchte des Jahres und markiert den Beginn der Gerstenernte, während Schawuot das Ende der Weizenernte darstellt. Die Omer-Zählung beginnt mit dem ersten Pessach-Tag.
Ende einer Katastrophe
In der nachbiblischen jüdischen Geschichte waren die Omer-Tage von Katastrophen geprägt: So starben als Folge des Bar-Kochba-Aufstandes gegen die Römer (132 bis 135) viele Schüler des Rabbi Akiva während einer Epidemie, zwischen 1096 und 1099 gab es Ausschreitungen während der Kreuzzüge und auch der Aufstand im Warschauer Ghetto und dessen Niederschlagung 1943 fiel in die Omer-Zeit.
Wegen dieser traurigen Geschehnisse werden in der Omer-Zeit keine freudigen Ereignisse gefeiert, ebenso schneiden gläubige Juden weder Bart noch Haare. Eine Ausnahme bildet der 33. Omer-Tag, entsprechend der jüdischen Zählweise mit Buchstaben „LG bOmer“ genannt, der auf den 18. Tag des jüdischen Monats Ijar fällt. An diesem Tag habe 135 die Epidemie und damit das große Sterben der Akiva-Studenten geendet.
Wie ein riesiges Volksfest
Er dauert nur einen Tag, und doch gleicht Lag BaOmer einem riesigen, fröhlichen Volksfest. In Israel gilt das Fest als Halbfeiertag, an dem grundsätzlich gearbeitet wird. Trotzdem kommen Juden traditionell zu diesem Fest auf dem galiläischen Berg Meron zusammen, um am Grab von Rabbi Schimon Bar Jochai ein Feuer zu entzünden. Am Vorabend sind es oft bis zu einer halben Million. Am Tag selbst kommen dann weitere 200.000 Menschen. Weil der Berg für Autos weiträumig gesperrt ist, kommen die Menschen, auch bei hohen Temperaturen, zu Fuß. Nach der Klagemauer in Jerusalem ist das Grab von Schimon bar Jochai auf dem Berg Meron die am meisten frequentierte Stätte in Israel.
„Der Schulchan Aruch“, das im 16. Jahrhundert von Rabbiner Josef Karo verfasste Buch, das die jüdisch-religiösen Vorschriften bündelt, „berichtet, dass am 33. Omer das Massensterben unter den Schülern von Rabbi Akiva aufhörte“, weiß Jossi, ein 26-jähriger ehemals Ultra-Orthodoxer. „Außerdem war Lag BaOmer ein großer Freudentag für den Rabbi Schimon Bar Jochai“, auch Raschbi genannt. „Auch er war ein Schüler von Rabbi Akiva. An Lag BaOmer ist er geboren. An dem Tag hat er auch geheiratet und ist gestorben.“
Die jüdische Überlieferung zitiert einen Bericht, den die Schüler Raschbis über seinen Todestag gaben. Ihnen habe er gesagt: „Dies ist ein Tag der Erfüllung. Meine Seele ist mit IHM vereint, entfacht durch IHN, vertieft in IHN.“ Jossi weiß: „Weil Raschbis Freude selbst so groß war, wurde es für alle Juden eine Mitzva, sich an Raschbis Freude mitzufreuen.“
Besondere Atmosphäre auf dem Meron
Dass Lag BaOmer ein spirituelles Fest ist, wird spätestens deutlich, wenn Menschen erzählen, die schon dort waren. Jossi selbst hat vor einigen Jahren der Gemeinschaft der Ultra-Orthodoxen den Rücken gekehrt. Er bezeichnet sich auch nicht als religiös. Die Atmosphäre auf dem Meron möchte er trotzdem nicht missen. 2019 erzählt er am Nachmittag des Lag BaOmer in Jerusalem: „Heute Morgen bin ich auf den Meron gefahren, nur um eine halbe Stunde dort zu sein. Diese halbe Stunde hat meiner Seele so gut getan. Viel mehr kann ich dazu jetzt nicht sagen, es ist zu tief.“
Auf dem Meron erzählte die elffache Mutter Matana am Vorabend: „An Lag BaOmer werden meine Gebete noch mehr als sonst erhört. Ich sehe so viele Wunder und die Erlösung. Egal wie schlecht es dir sonst gerade im Leben geht – sobald du zu Rabbi Schimon kommst, kann das nur Gutes für dich bedeuten.“ Die 38-Jährige ist in der nahen Stadt Safed aufgewachsen und kommt jedes Jahr auf den Meron. Angst, ihre Kinder in den Menschenmassen zu verlieren, hat sie nicht – sie tragen ein Papierbändchen mit ihrer Telefonnummer am Arm. „Es ist, als würde ich selbst an der Hochzeit von Rabbi Schimon teilnehmen“.
Die Polizei und viele Sicherheitskräfte sind im Einsatz, doch dass „so viele Menschen auf so engem Raum fröhlich zusammenkommen und es keine Katastrophen gibt, kann nur wegen Rabbi Schimon, dem Gerechten, geschehen. Das geht über den Verstand hinaus!“ Soweit sind sich die Meron-Besucher einig.
Tora als Beruf
Der 1995 verstorbene Lubavitscher Rabbiner William Stern schreibt: „Trotz der scheinbaren äußerlichen Unterschiedlichkeit besteht eine unverkennbare Verbindung und Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Aspekten von Lag BaOmer. Denn nach der Epidemie unter den Schülern Rabbi Akivas war gerade Raschbi einer der wenigen, die verschont blieben, um eine verwüstete Welt (spirituell) wiederherzustellen. In der Tat war er einmalig und ausgezeichnet unter den Schülern, wie Rabbi Akiva selbst bezeugte, als er zu ihm sagte: ‚Sei beruhigt – ich sowohl wie Dein Schöpfer sind uns Deines Wertes bewusst.‘“
Stern nennt zwei Haupteigenschaften, durch die sich Raschbi auszeichnete: „Erstens sah er das Studium der Tora als seinen ‚Beruf‘ an und hatte zweitens eine große ‚Ahavat Israel‘, eine Liebe zum Nächsten.“ So groß, wie das „Feuer der Tora“ in Raschbis Tagen gebrannt habe, sei es nie wieder gewesen. Um dieses besondere Licht der Tora wieder so groß zu machen wie zur Zeit von Schimon bar Jochais, entzünden Juden in Israel und weltweit an Lag BaOmer Lagerfeuer.
Die Menschen auf dem Meron versammeln sich normalerweise, um die spirituelle Erfahrung des berühmten Rabbiners zu feiern. An diesem Tag dürfen die Haare geschnitten und der Bart gestutzt werden. Jungen mit drei Jahren werden an diesem Tag zum allerersten Mal überhaupt ihre Haare geschnitten.
Corona-Krise: Lagerfeuer diesmal verboten
Doch in diesem Jahr sind Lagerfeuer am Montag und Dienstag verboten. Wer trotzdem dabei erwischt wird, an einem teilzunehmen, soll mit einer Geldstrafe von umgerechnet 125 Euro bestraft werden. Lediglich auf dem Meron werden in diesem Jahr drei Feuer rund um das Grab mit jeweils 50 Teilnehmern aus dem Ort erlaubt sein.
Victor Buskila ist stellvertretender Leiter der Polizei in Galiläa und warnte im Vorfeld deutlich: „Um ungebetene Gäste abzuwehren, setzen wir in der kommenden Woche 2.500 Polizeikräfte in der Gegend um das Grab des Schimon Bar Jochai ein.“ Dies berichtet die ultra-orthodoxe Zeitung „Hamodia“ am Sonntag. „In jedem anderen Jahr sorgen mehr als 5.000 Polizisten dafür, dass möglichst viele Menschen den Meron besuchen können. Dieses Jahr müssen wir leider das Gegenteil tun.“
Laut einer Umfrage des Instituts für Jüdische Politik (JPPI) aus dem Jahr 2018 gaben 14 Prozent der israelischen Juden an, so oft sie können an der Gedenkzeremonie auf dem Meron teilzunehmen. Doch Lagerfeuer haben sich zur Gewohnheit von viel mehr Israelis entwickelt. Daher liegt in normalen Jahren über den Städten Israels an Lag BaOmer häufig ein starker Brandgeruch. Viele grillen Kartoffeln oder die Schaumzuckerwatte (Marshmallow) über dem Feuer. Kommentatoren in israelischen Zeitungen zeigen sich teilweise erfreut, dass die Lagerfeuer in diesem Jahr ausfallen. Für die Umwelt sei das ohnehin besser.
Die Bibel-Initiative 929 lädt statt zu traditionellen Kumsitz-Tänzen zum „Zoom-Sitz“ ein und verspricht einen interaktiven „Leseabend am virtuellen Lagerfeuer“. Und die Chabad-Bewegung von San Diego in Amerika bietet sogar einen Zirkus mit Feuerspielen an, zu dem man mit dem eigenen Auto anreisen kann und einen „Distanz-konformen Abend der Einheit und Freude“ erleben kann. Lagerfeuer oder nicht – in Jerusalem werden seit Tagen Freudenlieder in den Vorhöfen der Synagogen und auf den Straßen über den beliebten Gelehrten gesungen.
Von: mh