Als Überlebender der Scho‘ah führe ich regelmäßig Gruppen aus deutschsprachigen Ländern durch Israel. Dabei werde ich sehr oft gefragt, ob ich den Reisenden aus dem „Tätervolk“ vergeben könne. Um diese Frage zu beantworten, ist es mir wichtig zu untersuchen, was die Bibel zum Thema „Vergebung und Vergeltung“ sagt.
Beginnen wir mit 2. Chronik 25,1–4. Dort wird vom jungen König Amazja in Jerusalem berichtet, der die Knechte derer tötete, die seinen Vater erschlagen hatten, aber „ihre Söhne tötete er nicht; denn so steht es geschrieben im Gesetz, im Buch des Mose [5. Mose 24,16], wo der Herr gebietet: Die Väter sollen nicht sterben für die Kinder und die Kinder nicht für die Väter, sondern ein jeder soll nur um seiner Sünde willen sterben“.
„Nur wer sündigt, der soll sterben“
Besonders der Prophet Hesekiel bezieht eindeutig Stellung zum Thema des Generationenerbes persönlicher Schuld: „Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben“ (Hesekiel 18,4). Weiter heißt es: „Doch ihr sagt: ‚Warum soll denn ein Sohn nicht die Schuld seines Vaters tragen?‘ Weil der Sohn Recht und Gerechtigkeit geübt und alle meine Gesetze gehalten und danach getan hat, soll er am Leben bleiben. Denn nur wer sündigt, der soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugutekommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen“ (Hesekiel 18,19–20).
Was bedeutet es nun aber, wenn die Bibel sagt, dass Gott die Sünden der Väter bis zur dritten und vierten Generation an denen heimsucht, die ihn hassen (2. Mose 20,5)? Lehrte nicht Mose, dass der HERR „vergibt Missetat und Übertretung, aber er lässt niemanden ungestraft, sondern sucht heim die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied“ (4. Mose 14,18). In diesem Vers verkündet Gott nicht etwa, dass er Kinder um der Sünden ihrer Väter willen über Generationen hinweg schlägt oder bestraft, sie auch nicht „heimsucht“ im klassisch gewordenen Sinne. Das zugrundeliegende hebräische Wort „pakad“ oder „pakod“, das mit dem Wort „heimsuchen“ übersetzt wird, bedeutet eigentlich „prüfend nachsehen“.
Die Möglichkeit zur Umkehr
Abraham Ibn Esra, ein wichtiger jüdischer Gelehrter des Mittelalters, schrieb, dass Gott den Nachkommen die Möglichkeit zur Umkehr gibt, bevor er bestraft (Jeremia 25,12). Im Talmud heißt es: Gott straft nur, „wenn die Kinder und Kindeskinder es nicht bereuen“ (Sanhedrin 27b).
Lassen Sie uns das Verb „umkehren“ oder „bekehren“ („schuw“) genauer betrachten. In Hesekiel 18 kommt es sechsmal vor. Gott vergibt denen, die in Reue die Abkehr von den Sünden und die Hinwendung zu ihm mit einem gottesfürchtigen und gerechten Lebenswandel vollziehen. Wenn die Nachkommen das Gebot Gottes halten und sich von den Sünden der Väter distanzieren, dann wird der Fluch bis ins dritte und vierte Glied gebrochen und unterbunden.
Es gibt viele Beispiele von Nachkommen großer Verbrecher, die ein von Gott gesegnetes Leben geführt haben. Schma’jah und Avtaljon, deren Ahnen sich zum Judentum bekehrt hatten, sollen Nachkommen gewesen sein von Sanherib, dem assyrischen König (705-681 v. Chr.), der Judäa zur Zeit der Herrschaft Hiskias wiederholt angriff, und den man als „Eichmann seiner Zeit“ bezeichnen könnte. Schma’jah und Avtaljon waren bedeutende rabbinische Gelehrte. Auch manche Kinder deutscher Nazi-Verbrecher haben aktiv die Begegnung und das Gespräch mit Holocaust-Überlebenden und ihren Nachkommen gesucht.
Meine Gedanken zum Thema Vergebung und Vergeltung möchte ich gerne mit einem Zitat aus dem Tagebuch von Etty Hillesum (Das Denkende Herz der Baracke: Die Tagebücher 1941–1943, Freiburg 2014) schließen. Sie wurde am 30. November 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet: „Und sollte es nur noch einen einzigen anständigen Deutschen geben, dann wäre dieser es wert, in Schutz genommen zu werden gegen die ganze barbarische Horde, und um dieses einen anständigen Deutschen willen darf man seinen Hass nicht über ein ganzes Volk ausgießen“ (S. 17).
Israel Yaoz wurde 1928 in Gelsenkirchen geboren. Von 1944 bis 1945 war er im Konzentrationslager Bergen-Belsen inhaftiert. Er ist der einizge Scho‘ah-Überlebende seiner siebenköpfigen Familie. 1948 wanderte er nach Israel ein und wurde Reiseleiter. Er verstarb im Frühjahr 2018. Sein Aufsatz wurde redaktionell gekürzt und bearbeitet. Wir danken der Familie von Israel Yaoz an dieser Stelle ausdrücklich für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung. Zum Erscheinen des Aufsatzes haben Merle Hofer, Brigitta Rosema und Nicolas Dreyer beigetragen.
Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 4/2019 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.
Von: Israel Yaoz