Israelnetz: Sie sind in den USA in der „Intercontinental Church of God“ aufgewachsen – einer Kirche, die sich nach dem jüdischen Kalender richtet. Wie hat Sie das in Ihrer Jugend geprägt?
Chloé Valdary: Aufzuwachsen und dabei Dinge zu feiern wie zum Beispiel Jom Kippur, Rosch HaSchana, Schabbat und so weiter bedeutet, dass ich davon bestimmt bin, die Welt mit einem jüdischen Zeitverständnis zu betrachten. Auch wenn ich nicht länger zu dieser Kirche gehöre, betrachte ich immer noch die Zeit in einer sehr jüdischen Weise. Freitagabende sind dem Schabbat gewidmet – was immer das bedeutet. Und ich faste immer noch an Jom Kippur.
Doch es war nicht nur die Einhaltung der Feiertage. Mein Vater stellte mir auch die Literatur von Leon Uris vor, als ich 15 Jahre alt war, also Bücher wie „Exodus“ über das Jahr 1947. Das hat mich wirklich beeinflusst. Es war meine erste Einführung in den Zionismus.
Fühlen Sie sich ein wenig wie der Fremdling, der in der Tora erwähnt wird – der „Fremdling, der in eurer Mitte wohnt“? Der dann auch den Schabbat und die Gebote halten soll.
In einem gewissen Maße ja. So hat die Kirche, zu der ich gehörte, diese Texte gedeutet. Im 2. Buch Mose, wenn es etwa um den Schabbat geht, du sollst keine Arbeit tun, weder du noch der Fremdling in deiner Mitte.
In der Schule hatten Sie viele jüdische Freunde und wussten schon einiges über Israel. Doch Ihre zehntägige erste Israelreise hat nach Ihrer Aussage eine „Lebensveränderung“ mit sich gebracht. Was genau hat sich da verändert?
Es machte etwas, das abstrakt in meinem Kopf war, konkret. Ich hätte eine Vorstellung von der israelischen Gesellschaft haben können, indem ich Bücher lese. Das wäre aber nur Fiktion. Ich war in meinem Leben nicht wirklich mit Israelis im Austausch. Nach Israel zu gehen und mit Israelis zu tun zu haben, ihre Lebensumstände zu sehen, gab mir mehr Mittel und mehr Ressourcen, um meinen Leuten in Amerika die Dinge besser zu erklären.
Apartheid ist ein Vorwurf, der oft gegenüber Israel geäußert wird. Vor vier Jahren schrieben Sie einen offenen Brief an pro-palästinensische Aktivisten, die die Sache der Palästinenser mit dem Kampf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gleichsetzten: „An die Studenten für Gerechtigkeit in Palästina, ein Brief von einer ärgerlichen schwarzen Frau“. Wie waren die Reaktionen?
Das war 2014, also erinnere ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten der Antworten. Ich erinnere mich, dass es eine Reaktion von der jüdischen Gemeinschaft gab, die war überwältigend. Am Morgen, nachdem es veröffentlicht worden war, hatte ich 100 Nachrichten in meinem Posteingang. Ich denke, es war sonst ziemlich ruhig.
Die anti-israelische Boykottbewegung BDS hat in vielen Ländern Anhänger. Was ist der Grund dafür, dass so viele Menschen Waren aus Israel und vor allem den Siedlungen boykottieren wollen? Denn es gibt auch andere Länder wie Marokko, das die Westsahara annektiert hat, und niemand spricht darüber.
Erst einmal bin ich nicht einverstanden mit der Darstellung, dass so viele Länder daran beteiligt sind. Ich habe von Menschen im israelischen Ministerium für strategische Angelegenheiten gehört, dass es an sich eine Minderheit ist – eine Minderheit von Leuten, die sich nicht wirklich für Israel interessieren.
Zur Frage, warum BDS bedeutsam ist: Vielleicht ist entscheidend, wie viel Aufmerksamkeit wir einer Sache geben. Hinter BDS steckt eine Kampagne, die es im Falle von Marokko nicht gibt. BDS kommt aus der Gedankenwelt der „Intersektionalität“. Das ist die Idee, dass man Menschen einordnen sollte – nach der Hautfarbe oder anderen Kategorien. Man sieht die Welt nur als Unterdrücker der Unterdrückten. Dann sieht man die Israelis als weiß und die Palästinenser als braun. Deshalb ist der israelisch-palästinensische Konflikt Unterdrücker gegen Unterdrückte. Und deshalb ist die BDS-Bewegung ein Mittel, um dagegen zu kämpfen. Es ist eine sehr vereinfachende Sicht. Das war eine psychologische Erklärung dafür, warum BDS erfolgreich ist.
Der politische Zugang zur Frage, warum BDS von Bedeutung ist, hat viel damit zu tun, dass sich Antisemitismus im Laufe der Jahrhunderte in vielen Formen gezeigt hat. BDS ist die jüngste Erscheinung. Aber wichtig ist der historische Zusammenhang. Jüdische Studenten haben sich schon immer sozialen Bewegungen angeschlossen. Juden wurde nicht gesagt, du kannst dich uns nicht anschließen, weil du Zionist bist. Das geschah erst ab 1947, als die Vereinten Nationen den Teilungsplan beschlossen.
1975 wollte Amerika in der UNO Antisemitismus verurteilen, die Sowjets waren wirklich sehr gemein, sehr antisemitisch. Sie sagten: „Wenn ihr diese Resolution gegen Antisemitismus macht, werden wir dafür stimmen, aber nur, wenn ihr Zionismus hinzufügt.“ Das war der Anfang. Es war eine sowjetische Taktik. Später riefen die Sowjets eine ganze Kampagne namens „Operation Zionistische Dokumente“ ins Leben. Das Ziel war, den Nahen Osten mit antisemitischer Propaganda zu überfluten, einschließlich Ausgaben des antisemitischen Pamphlets „Protokolle der Weisen von Zion“ auf Arabisch. BDS kommt daher, aus dem Kalten Krieg.
US-Präsident Donald Trump hat die Botschaft nach Jerusalem verlegen lassen. Was haben Sie gedacht, als Sie im Dezember 2017 davon erfuhren?
Ich dachte, es ist gut. Es war lange überfällig. Und es waren die Demokraten, die Mitte der 1990er Jahre die Gesetzgebung angestoßen hatten, die Botschaft zu verlegen. Ich dachte, es war ein großartiger Augenblick für das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten. All diese muslimischen und auch afrikanische Länder hatten vorher keine Beziehungen mit Israel. Sie bauen jetzt Beziehungen auf oder denken darüber nach. Das ist eine Folge der Botschaftsverlegung.
Die Zwei-Staaten-Lösung gilt vielen Politikern und Aktivisten als einzige Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Sie lehnen diese Teilung des Gebietes ab und sprechen sich für einen einzigen jüdischen Staat aus, in dem alle Menschen gleichberechtigt sind. Warum?
Die Wahrheit ist: Ich bin nicht so sicher, wie gut ich mich in dieser Situation auskenne. Ich könnte mich irren. (lacht) Ich denke, dass es möglich ist, das zu erreichen, was Achad Ha’am wollte …
… der zionistische Schriftsteller.
Ich denke, Achad Ha’ams Vision von einer hebräischen Republik, in der die bestehenden Einrichtungen jüdische Werte vermitteln, könnte – ich könnte Unrecht haben – den gordischen Knoten der demographischen Frage lösen. Wenn Frankreich als Republik französische Kultur hat und es so macht, dass selbst Menschen, die nicht ethnisch französisch sind, Teil der französischen Republik sein können und ihre nationale Identität darin sehen, dann könnte man in der Theorie an eine israelische Republik denken, in der arabische Bürger eine sehr entscheidende Rolle spielen. Es ist aber sehr kompliziert, ich weiß nicht, ob es funktioniert.
Meinen Sie, dass Gott Sie beauftragt hat, sich für Israel einzusetzen – wie ein Ruf von Gott?
Ich würde es nicht einen Ruf nennen, das klingt so vorherbestimmt. Ich empfinde definitiv eine Leidenschaft dafür, die Geschichte des jüdischen Volkes zu erzählen. Das ist nicht nur politisch motiviert. Man könnte das mit jemandem vergleichen, der von Musik begeistert und eng mit ihr verbunden ist. So könnte man meine Beziehung zu Israel beschreiben. Ist das übernatürlich? Wahrscheinlich schon.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Elisabeth Hausen