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„Sag niemals, du gehst den letzten Weg“

Studenten im Jerusalemer Viertel Nachlaot hören am Mittwochabend gespannt der Lebensgeschichte von Chaim Rosenblum zu. Dieser erzählt von der schwersten Zeit seines Lebens. Und warum ihn seit fast sechs Jahrzehnten ein bestimmtes Lied begleitet.
Die an die Wand projizierte Kerze „brennt“ im Gedenken an die ermordeten Juden

JERUSALEM (inn) – Während die offizielle Zeremonie im Gedenken an sechs Millionen ermordete Juden in der Scho’ah in Yad Vashem abgehalten wurde, sind Israelis am Mittwochabend zu Tausenden in Hunderte von Wohnzimmern geströmt. Sie kamen, um die Geschichte von Holocaustüberlebenden zu hören. Ben, ein Student der Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität, hat an diesem Abend seine Wohnungstür weit aufgemacht. Etwa 120 junge Leute sind der Einladung des 26-jährigen Berufssoldaten in seine Wohngemeinschaft im Jerusalemer Stadtteil Nachlaot gefolgt. Viele sitzen auf Sofas und auf dem Boden, andere stehen in der Küche oder auf den Treppen, die zum Wohnzimmer hin- und von ihm hinwegführen. Studenten der Politikwissenschaft haben zu diesem Abend eingeladen und Freunde mitgebracht.

Bevor Chaim Rosenblum beginnt, seine Geschichte zu erzählen, verteilt er die „Jüdische Partisanenhymne“ von Hirsch Glick auf Blättern, wo sie auf Jiddisch und Hebräisch geschrieben steht. Die erste Strophe singt er allein, auf Jiddisch. Als er sie auf Hebräisch wiederholt, stimmen die Studenten ein:

„Sag niemals, du gehst den letzten Weg, wenn Gewitter auch das Blau vom Himmel fegt. Die ersehnte Stunde kommt, sie ist schon nah, dröhnen werden unsre Schritte, wir sind da!“

Rosenblum ist überzeugt: „Jeden von uns begleitet eine Melodie im Leben. Ich wache jeden Tag mit dem Lied ‚Sog nicht kainmal’ auf. Es gibt mir Lust zum Leben.“

Rosenblum ist 1930 in Siebenbürgen, einem Teil von Rumänien, geboren. „Die Leute dort waren arm und lebten von Landwirtschaft. Sie haben schwer gearbeitet. Die Bewohner waren religiös, viele katholisch, und sie haben die Juden gehasst. Als die Deutschen 1941 dort eintrafen, wurde es ganz schlimm.“ Chaim ist sichtlich bewegt, als er vor den jungen Menschen spricht: „Es ist nicht schön, über diese Dinge zu reden. Ein großer Teil meiner Familie wurde ausgelöscht, verbrannt.“ Die Zuhörer spüren den Optimismus in Chaims Worten: „Ich bin es nicht gewohnt, darüber zu sprechen. Schon gar nicht öffentlich.“ Vor einem Jahr hat er es zum ersten Mal getan: „Es war mir eine große Ehre, damals vor Polizisten zu sprechen, denn das sind Menschen, die soviel leisten und soviel von sich geben, um uns ein gutes Leben zu ermöglichen.“

Mit elf Jahren kam Chaim mit seiner Familie in ein Lager: „Es war schlimm dort. Es wurden immer etwa 15 Familien in eine Baracke gesteckt. Alle zusammen, Frauen, Kinder, Männer. Die hygienischen Umstände waren furchtbar. Wir hatten kaum zu essen. Doch wenigstens unser Leben ließen sie uns. Aus anderen Lagern hörten wir, dass sie ermordet wurden.“ Mit schlichten Worten beschreibt Chaim einzelne Erlebnisse, für die Zuhörer sind sie teilweise kaum erträglich: „In einem Lager hängten sie Menschen auf und hefteten Zettel an die Leichname mit den Worten ‚koscheres Fleisch‘. Wenn wir solches hörten, sagten wir: ‚Welches Glück haben wir, dass wir leben dürfen!‘“

Es ist eng in dem großen Wohnzimmer in Nachlaot, doch von den Zuhörern ist nur das leise Atmen zu vernehmen. Chaim berichtet: „Etwa drei Jahre war ich im Lager. Ich weiß nicht mehr, woher, aber von irgendwoher hatte ich Tennisschuhe bekommen, die ich diese drei Jahre trug. Natürlich hatten sie Löcher, vor allem an den Zehen. Und weil ich keine Socken hatte, versuchte ich, meine Füße zu schützen mit weggeworfenen Zeitungen oder was ich sonst so finden konnte.“ Die Zeit im Lager war schlimm, vor allem an den Hunger erinnert sich Chaim nicht gern. Er entschuldigt sich bei den jungen Leuten, weil er „euch etwas erzählen möchte, das ich noch nie jemandem erzählt habe: Mein Freund Miki war drei oder vier Jahre älter als ich. Als ich ihm mal sagte: ‚Ich bin so hungrig’, sagte er mir: ‚Mach das, was ich tue: Ich sammle ganz viel Spucke im Mund und wenn ich sie dann herunterschlucke, bilde ich mir ein, es wäre etwas zu essen. Dann ist der Hunger nur noch halb so schlimm.“ Keiner der Anwesenden rührt bei diesen Schilderungen die bereitgestellten Kekse und Chips an.

An die Befreiung aus dem Lager kann sich der 88-Jährige gut erinnern. „Als wir am 3. August 1944 von den Russen befreit wurden, wussten wir nicht, wohin wir gehen sollten. Unser Besitz war ja komplett in die Hände der Rumänen übergegangen. Dann, nach ein paar Tagen, kamen Juden der amerikanischen Organisation ‚Joint‘, um sich um uns zu kümmern. Fast niemand wollte in Rumänien bleiben, alle wollten nach Palästina, doch wir bekamen keine Erlaubnisse. Ich ging in einen sogenannten ‚Hachshara-Kibbutz‘ in Rumänien, dort blieb ich drei Jahre und man wollte uns auf das Leben in Palästina vorbereiten.“

„Drei Jahre“ – das würde sich in seinem Leben immer wiederholen, erklärt Chaim. Denn nach dieser Zeit habe er wiederum drei Jahre in der rumänischen Armee gedient. Dort hätten die Juden aus dem Kibbutz zwar Uniformen bekommen, „doch sie hatten eine andere Farbe. Und eine Waffe ließ man uns auch nicht. Ich arbeitete sehr hart, damit ich mir niemals nachsagen lassen musste, die Juden würden nicht arbeiten.“ Sein Fleiß und seine Beharrlichkeit bei der Arbeit für die Gemeinde zahlten sich aus: Nach einigen Monaten wurden elf von 3.000 Soldaten ausgezeichnet. „Das war schon ein tolles Gefühl, als alle 3.000 vor uns Elfen salutieren mussten. Ich fühlte mich wie ein König.“

Lebensweisheiten

Gegenüber den jungen Leuten macht Chaim eine Liebeserklärung an seine Muttersprache: „Jiddisch war die Sprache der Juden in der Diaspora. Es ist so eine schöne Sprache und es gibt viele Wörter und Ausdrücke, die sich in keine andere Sprache übersetzen lassen. Nicht mal ins Hebräische. Es ist eine ausdrucksstarke Sprache mit sehr viel Inhalt.“

Der religiöse Jude berichtet von seiner Zeit als Soldat im Sechs-Tage-Krieg. Damals habe er zwischen Ramat Rachel und Bethlehem gekämpft und auf fast wunderbare Weise hätten ihm die Araber den Schlüssel zum Rahelsgrab überreicht. „Das war für mich fast nicht zu glauben. Nach all dem, was wir erlebt hatten, hat mich das sehr an Jeremia erinnert.“ Dort heißt es in Kapitel 31, nachdem „Rahel über ihre Kinder weint“: „Aber so spricht der HERR: Lass dein Schreien und Weinen und die Tränen deiner Augen; denn deine Mühe wird noch belohnt werden, spricht der HERR. Sie sollen wiederkommen aus dem Lande des Feindes.“ Auch wenn er es wichtig findet, dass sich junge Leute mit der Vergangenheit beschäftigen – wichtig ist Chaim vor allem die Zukunft: „Es bewegt mich, wie ich sehe, wie ihr jungen Leute das weiterführt, was Generationen vor euch begonnen haben.“ Besonders würdigt er den Dienst der israelischen Armee sowie ehrenamtliche Dienste: „Es ist wichtig, Geld zu verdienen, doch fast noch wichtiger ist es, anderen abzugeben, von dem, was man selbst hat. Viele haben mir und meiner Familie geholfen, auf dem Weg hier ins Land. Ich glaube, dass das Leben reicher wird, wenn man anderen hilft und gibt. Deshalb habe ich immer versucht, anderen zu helfen.“ Für seine ehrenamtlichen Dienste, auch in der Armee, hat er sogar mehrere Urkunden bekommen.

Für heute existierenden Judenhass hat Chaim eine einfache Erklärung: „Wir können so dankbar sein für dieses Land, das wir in den vergangenen sieben Jahrzehnten aufbauen durften. Nach Tausenden Jahren des Leidens haben wir in kurzer Zeit ein Land aufgebaut, das sehr viele Erfolge zu verzeichnen hat. Viele haben Angst vor diesen Erfolgen und sind schlicht eifersüchtig.“

Die jungen Israelis hören dem Überlebenden aufmerksam zu Foto: Israelnetz/mh
Die jungen Israelis hören dem Überlebenden aufmerksam zu

Knapp zwei Stunden spricht Chaim Rosenbaum an diesem Abend über seine Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges und sein Leben. Dann beendet er seinen Bericht und verabschiedet die jungen Besucher. Zwei Drittel gehen. Etwa 40 Studenten bleiben und Schaul Schenhav, Professor für Politikwissenschaft, wendet sich an Chaim: „Die Tatsache, dass so viele Leute hierher gekommen sind und dir zugehört haben, spricht für sich.“ Lachend fügt er hinzu: „Ich wünschte, ich hätte auch solch aufmerksame Studenten.“ Schenhav dankt Chaim: „Es ist ein Vorrecht, diese Geschichten aus erster Hand zu hören.“

Chaim respektiert sein Gegenüber und über diesen Respekt spricht er auch zu den jungen Leuten. Auf die Frage eines Studenten, was er Nichtjuden, vielleicht sogar Deutschen, heute mitgeben würde, gibt der rüstige Rentner keine platte Antwort: „Schau, zunächst ist doch jeder einmal Mensch. Dabei ist egal, aus welchem Land er kommt, welcher Religion er angehört oder welches Geschlecht er hat. Und deshalb sind wir alle einander doch Respekt schuldig.“ Das bezieht er auch auf die arabischen Mitbürger und die Nachbarländer. Er bedauert, dass so wenige Israelis wirklich bereit seien, Arabisch zu lernen.

Doch warum nun ist ausgerechnet das Partisanenlied zu Chaims Lebensmelodie geworden? Seine Antwort ist bestimmt: „1960 bin ich am 1. Januar nach Israel gekommen. In einem anderen Dokument ist der 31.12.1959 aufgezeichnet. Wenige Monate, nachdem ich hier angekommen war, hörte ich dieses Lied zum ersten Mal. Zum Jom HaSikaron lud mich jemand zu einer Zeremonie der Armee auf den Herzl-Berg ein. Dort sang der Chor dieses Lied. Das hat mich tief berührt. Seitdem begleitet es mich. In dem Lied steckt so viel Hoffnung und Lebensmut.“ Am Jom HaSikaron gedenkt Israel der gefallenen Soldaten und der Terror-Opfer. In diesem Jahr ist er am 18. April.

Auch Enkel des Überlebenden dabei

Chaim hat eine Tochter, sechs Enkel und zwei Urenkel. Drei Enkel sitzen an diesem Abend ebenfalls im Wohnzimmer. Miri ist eine von ihnen: „Einige Dinge, die mein Großvater heute erzählt hat, habe ich heute zum ersten Mal gehört.“

Die Studenten sind begeistert von diesem Abend. Adi studiert Wirtschaftslehre und freut sich darüber, dass Chaim nach seinen vielen schlimmen Erlebnissen so lebenszugewandt berichtet hat: „Besonders aber hat mich bewegt, wie wertschätzend er von unseren Soldaten gesprochen hat.“

Auch Ben ist gerührt. Er resümiert: „Es war ein besonderer Abend. Ich habe schon viele Holocaustüberlebende sprechen gehört, doch Chaim hat eine so positive Art. Ich fühle mich privilegiert, dass wir zu den Ersten gehören, mit denen er seine Geschichte geteilt hat.“

Der Jom HaScho‘ah

Der Holocaustgedenktag wird in Israel am 27. Tag des jüdischen Kalendermonats Nissan begangen. Das ist eine Woche nach dem siebten Tag des Pessachfestes sowie eine Woche vor dem Jom HaSikaron, dem „Tag des Gedenkens an Israels gefallene Soldaten und Terror-Opfer“. In diesem Jahr begann der Jom HaScho’ah am Abend des 11. April. Das Datum war im April 1951 von der Knesset festgesetzt worden und wird seitdem sowohl von der Regierung als auch von jüdischen Gemeinschaften und Einzelpersonen weltweit wahrgenommen. An diesem Tag gibt es keine öffentlichen Vergnügungen. Kinos, Theater und Clubs sind geschlossen. Seit den frühen 1960er Jahren gilt das Gesetz, dass Geschäfte um 20 Uhr schließen müssen. Außerdem sorgt eine Sirene morgens um 10 Uhr dafür, dass das öffentliche Leben im ganzen Land zum Stillstand kommt und zwei Schweigeminuten begangen werden.

Ben fasst den Abend so zusammen : „Es ist ein Vorrecht, solche Geschichten zu hören und einen Menschen wie Chaim kennenzulernen. Unsere Kinder werden so etwas nicht mehr aus erster Hand hören.“

Erinnerung im Wohnzimmer längst bekannt

Längst ist der Traum von Nadav Embon Wirklichkeit geworden und seine Initiative „Sikaron BeSalon“, Erinnerung im Wohnzimmer, fester Bestandteil des Jom HaScho’ah: „So wie der Sederabend ein Teil des Pessachfestes ist, erinnern wir uns am Jom HaScho’ah an unsere Geschichte.“

Entstanden ist die Initiative 2009. Damals luden Embon und seine Frau Holocaustüberlebende zu sich ins Wohnzimmer ein. Dazu kamen etwa 40 Freunde. „Schon lange fühlten wir eine große Diskrepanz zwischen dem Jom HaScho’ah und unserer heutigen Lebenswirklichkeit. Wir fragten nach der Bedeutung dieses Tages für uns und andere junge Israelis. Vor allem für solche, die nicht durch einen äußeren Rahmen an einer Zeremonie teilnehmen, wie sie etwa in Schulen, der Armee und Universitäten begangen wird. Sephardische oder äthiopische Juden verbinden mit diesem Tag größtenteils überhaupt nichts, sie fühlen sich von diesem Gedenken ausgeschlossen. Wir wollten aber zeigen, dass die Scho‘ah etwas mit uns zu tun hat, dass sie uns alle angeht.“ In den vergangenen Jahren ist die Initiative stark gewachsen und längst Bestandteil der Erinnerungskultur der israelischen Gesellschaft geworden.

Von: mh

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