Der legendäre Rundfunkabhörer Micki Gurdus ist tot. Er starb am Dienstag in Tel Aviv im Alter von 73 an einem Herzstillstand. Vor allem in den 60er und 70er Jahren, als es in Israel kaum Fernsehen und schon gar kein Internet oder andere moderne Kommunikationsmittel gab, hatte er mit Geduld und Technik die Fähigkeit, Funkverkehr von Flugzeugen und Schiffen, militärische Kommunikation und Hobbyfunker abzuhören. Oft hat er durch seine exklusiven und schnellen Berichte im israelischen Rundfunk den Verlauf der Weltgeschichte geändert. Wegen seiner Verdienste würdigten Staatspräsident Reuven Rivlin und Premierminister Benjamin Netanjahu den Tod „unseres mythologischen Rundfunkabhörers“, wie es Rivlin ausdrückte. Die folgende Reportage stellt den vielseitigen Israeli vor.
Aufgewachsen zwischen Fernschreibern und Empfangsgeräten
„Hier ist Kol Israel. Die Nachrichten. Unser Rundfunkabhörer Micki Gurdus meldet, …“ Wenn der israelische Rundfunk so seine Nachrichten aufmacht, dann herrscht keine Saure-Gurken-Zeit. Micki Gurdus ist weder Politiker noch Militär. Dennoch liegt es oft in seiner Hand, Menschenleben zu retten oder den Gang der Weltgeschichte zu verändern. Gurdus verfügt – wie der Papst – über keinerlei „Divisionen“ und hat doch von Zeit zu Zeit eine nicht zu unterschätzende Macht. Seine Geheimwaffe ist jedem zugänglich, aber er allein macht sie sich für journalistische Zwecke zunutze. Micki Gurdus hört systematisch alle Funkfrequenzen ab. Über Kurz- oder Langwelle, auf UHF oder VHF erfährt er oft als Erster von Revolutionen, Flugzeugentführungen oder Befreiungsoperation. Nicht selten bringt er peinliche Informationen an die Öffentlichkeit, die betroffene Regierungen lieber in der Stille der Geheimhaltung gehalten hätten. Öffentlichkeit kann Berge versetzen, Kriege auslösen oder ausgetüftelte Pläne zum Scheitern bringen.
Micki Gurdus ist zwischen Fernschreibern und Empfangsgeräten aufgewachsen und versteht sieben Sprachen, neben Hebräisch auch Englisch, Französisch, Russisch, Polnisch, Arabisch und Deutsch. Wenn es sein muss, findet er sich in noch ein paar weiteren Sprachen zurecht, die er beim ständigen Rundfunkabhören aufgeschnappt hat. Seinen „Beruf“ hat er als 25-Jähriger von seinem Vater Nathan erlernt. Nathan Gurdus hat wohl als Erster das Rundfunkabhören zu einer eigenen Sparte des Journalismus gemacht. Durch eine Lähmung an den Rollstuhl gebunden, hat er aus seiner Not eine Tugend gemacht und schon 1920 in Berlin Zeitungsberichte verfasst, deren Informationen aus fernen Rundfunksendungen stammten. 1970 begann dann sein Sohn Micki das Radiohören professionell zu betreiben. Heute ist er Angestellter der israelischen „Rundfunk- und Fernsehbehörde“ und führt den Titel: unser Rundfunkabhörer.
Wenn es im Nahen Osten hoch hergeht, geben sich Fernsehteams bei Gurdus die Klinke in die Hand. Hier können sie mehr erfahren als über internationale Nachrichtenagenturen. Er gilt als zuverlässige Quelle. Moderne Technik ermöglicht es den Studios in Israel immerhin, mit Gurdus wenigstens im Bereich des Fernsehens zu konkurrieren. In Herzlija oder Jerusalem werden die Kommunikationssatelliten der arabischen Welt angezapft und mitgeschnitten. Wenn im Irak, in Syrien oder im Jemen eine pathetische Rede gehalten wird, ist ausgerechnet Israel die Bodenstation, wo dieses Filmmaterial empfangen, geschnitten und per Satellit nach Europa und Amerika weitergeleitet wird. Ohne diesen „Service“ wäre seinerzeit der irakische Präsident Saddam Hussein mit seiner Propaganda nicht sehr weit gekommen… Gurdus hatte als erster die irakische Invasion in Kuwait gemeldet, in deren Folge die Amerikaner zwei Kriege gegen den Irak führten und das heute Chaos im ganzen mittleren Osten mitverantworteten.
Wie eine schlecht getarnte Geheimdienstfiliale
Gurdus wohnt in einem ganz normalen Reihenhaus am Chen-Boulevard in Tel Aviv. Nur an dem Antennenwald auf dem Dach ist dem Haus der ungewöhnliche Bewohner anzusehen. Wer Gurdus nicht kennt, könnte meinen, dass der israelische Geheimdienst hier eine schlecht getarnte Filiale eingerichtet hat. Wenn nicht gerade ein Flugzeug gekapert oder ein Kreuzfahrtschiff entführt wird, ist es kein Problem, ihn unter seiner Tel Aviver Telefonnummer zu erreichen.
Er antwortet immer freundlich, selbst wenn bei ihm eigentlich die Welt gerade zusammenbricht. Ein Interview? Seiner Stimme ist anzuhören, dass er eigentlich genug davon hat. Im ersten Stock steht auf dem Namensschild aus braunem Plastik „Michael Gurdus“. Der Hausherr begrüßt uns etwas scheu, aber freundlich. Die Jalousien der Drei-Zimmer-Wohnung sind heruntergelassen. Gurdus bittet uns in sein Zimmer. Ein gedämpftes Zwitschern, Rauschen und Piepen weist den Weg.
Sein „Büro“ enttäuscht beim ersten Eindruck. Hier also fließen jene Informationen zusammen, die immer wieder Stoff für Schlagzeilen in aller Welt hergeben. Ein Küchentisch und ein alter Schreibtisch füllen L-förmig den Raum. Auf diesen beiden Tischen türmen sich elektronische Geräte. An den Wänden eine große Weltkarte, Flugzeug-Poster, Urkunden, die sein Vater Nathan erhalten hat, ein Foto des Vaters und dessen letzter Presseausweis aus dem Jahr 1971. Auf die Landkarte hat Gurdus Zeitungsausschnitte geklebt. Das Titelbild der Times aus den Tagen der TWA-Entführung nach Beirut im Juni 1985 fällt auf. Gurdus hat bei dieser Entführung ganz wesentlich „mitgewirkt “.
Über der Zimmertür hängt eine Karikatur: „Entebbe – Mission Impossible“. Nach Entebbe in Uganda hatten 1976 deutsche und palästinensische Terroristen einen französischen Airbus A300 entführt, der sich auf dem Weg von Tel Aviv über Athen nach Paris befand. Viele israelische und jüdische Passagiere waren an Bord. Unter dem damaligen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin vollbrachte Israel eine waghalsige Geiselbefreiung mit einem Kommandounternehmen, das in die Geschichte einging und mehrmals verfilmt worden ist. Bei der Aktion ist der Befehlshaber Joni Netanjahu ums Leben gekommen. Von dem Ruhm seines Bruders als Volksheld zehrt bis heute Benjamin Netanjahu, der schon mehrfach zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist. Aufkleber von ZDF, Radio Japan und der „Voice of Saudi Arabia“ hängen neben einer kaum erkennbaren Weltuhr, die wohl jemand Gurdus zum Geburtstag geschenkt hat.
„Wenn Moskau Bilder aus dem Jemen zeigt, kann es interessant sein“
Ehe wir mit dem Interview beginnen, müssen erst ein paar Flugzeugmodelle beiseite geräumt werden. Gurdus bringt noch schnell Kaffee und bietet als Hintergrundmusik quäkenden Sprechfunkverkehr der Flugzeuge. In einer Ecke des dunklen Zimmers läuft auf einem Sony-Fernseher ein Zeichentrickfilm. Wir fragen ihn nach seinen Antennen. Was er genau auf dem Dach hat, verrät er uns nicht. „Das ist mein Geheimnis. Das kann ich doch nicht verraten“, sagt Gurdus – ein Satz, den er noch öfter wiederholt. Begeistert erzählt er von einer neuen Parabolantenne. „Ich habe das größere Modell, für das man eine Genehmigung braucht. Bis 2,40 Meter Durchmesser sind Parabolantennen genehmigungsfrei.“ Der Preis für eine solche Antenne liegt zwischen 3.000 und 30.000 Dollar. Wie viel seine Antenne gekostet hat, bleibt uns verborgen. „Von Technik verstehe ich überhaupt nichts. Wenn mal ein Gerät kaputtgeht, rufe ich einen Techniker.“
Gurdus wird plötzlich ganz lebendig. Der Zeichentrickfilm im Fernsehen ist vorbei. Aufnahmen aus dem Jemen erscheinen auf dem Bildschirm. „Das muss ich aufnehmen. Wenn Moskau Bilder aus dem Jemen zeigt, kann es was Interessantes sein.“ Ich dachte, es laufe das jordanische oder ägyptische Fernsehen … Er könne schon lange über den Satelliten Fernsehen aus den USA, aus Europa und eben auch live aus Moskau empfangen, erklärt uns Gurdus. „Seit der arabische Nachrichtensatellit Arabsat in Betrieb ist, kann ich Fernsehen aus fast allen arabischen Ländern sehen“, jubelt er. Für ihn bedeutet der Sprung von Teheran nach Bagdad und von dort nach Damaskus und Riad lediglich einen Knopfdruck.
Gurdus’ Arbeitstag beginnt um sechs Uhr morgens. Fünfzehn Empfänger für UKW, Kurzwelle, Langwelle, UHF und VHF sowie fünf Kassettentonbandgeräte werden neben Scannern und dem Fernseher angeworfen. Bestimmte Sender im Libanon, Radio Monte Carlo und BBC werden ununterbrochen mitgeschnitten. Sie sind Informationsquellen ersten Ranges für das Geschehen im Nahen Osten. 15 Kurzwellen-Empfangsgeräte stehen neben- und übereinander aufgereiht. Auf einem der Kästen thront ein MBA-Reader. An ein Kurzwellengerät mit entsprechender Frequenz angeschlossen, können mit dem MBA-Reader die Funksendungen von Nachrichtenagenturen entschlüsselt werden. Auf einem Monitor kann Gurdus dann die letzten Meldungen von INA, IRNA, SANA oder Tass mitlesen. Es versteht sich von selbst, dass Gurdus keiner dieser Agenturen Nutzungsgebühren zahlt …
Neben modernen Kurzwellenempfängern stehen auf dem alten Schreibtisch auch noch ein paar „Dampfmaschinen“. Mit diesen antiken Geräten hört Gurdus über VHF und UHF jeglichen Sprechfunkverkehr. Er kann Militär und Polizei, den Kontrollturm in Athen oder Lod und natürlich auch den Seefunk im syrischen Tartus oder im ägyptischen Port Said mitverfolgen. Vor ihm auf dem Tisch liegt nur ein Buch. Es ist das „World Radio TV Handbook“, seine „Bibel“. Sonst nur noch zwei Telefone, ein paar Zettel, ein Bleistift und ein verbeulter Aschenbecher. Das eigentliche Herz der ganzen Zauberei ist ein schmuddeliger Karteikasten aus dunkelbrauner Pappe, dessen zerfledderter Deckel bald abfallen wird. Darin hat er 15 Jahre lang Frequenzen gesammelt.
Mithören mit System
Dieser Kasten ist sein bestgehütetes Geheimnis. Er lässt uns keinen Blick hineinwerfen. Darin steht auch die Frequenz von „Air Force One“, der amerikanischen Präsidentenmaschine. 1977 hörte Gurdus, wie Außenminister Alexander Haig einem Beamten im Weißen Haus funkte, die Watergate- Tonbänder nicht an Präsident Nixon zu geben. Die Watergate-Abhöraffäre hatte 1974 zur ersten Absetzung eines amerikanischen Präsidenten, Richard Nixon, in der Geschichte der USA geführt. In seinem streng geheimen Zettelkasten bewahrt Gurdus auch die Frequenzen der amerikanischen Air Force im Nahen Osten auf. Als alle Welt auf Teheran blickte, wo 1979 Anhänger des Ajatollah Chomeini die amerikanische Botschaft besetzt hatten, hörte Gurdus die amerikanischen Frequenzen ab.
Obwohl es da um streng geheime Information ging, benutzten die Amerikaner oft Klartext. Jeder konnte mithören. Gurdus tat es mit System! Von einem US-Hauptquartier in Izmir (Türkei) erfuhr er über Kurzwelle, dass die Amerikaner eine Befreiungsaktion planten. In Kairo meldeten mehrere Hercules-Piloten ihren Abflug in Richtung Osten. Die Funkleitzentralen in Oman und Bahrein meldeten sich ebenfalls, obwohl diese beiden arabischen Länder jede Zusammenarbeit mit den Amerikanern energisch dementierten. Schließlich hörte Gurdus, dass es Probleme gab. Sand war in das Getriebe von einem Helikopter geraten und schließlich rammte ein Rettungshubschrauber beim Auftanken in der Wüste eine C-130 Hercules. Acht amerikanische Soldaten starben.
Gurdus wusste mehr als Washington. Aber er schwieg. Es hätte vielleicht seinen journalistischen Ruhm erhöht, wenn er über den israelischen Rundfunk der Welt die Kunde von dem gescheiterten Unternehmen mitgeteilt hätte. Aber eine vorzeitige Veröffentlichung hätte auf die Fährte der verunglückten Amerikaner geführt. Gurdus schwieg also bis zu dem Augenblick, wo klar war, dass die letzten verunglückten Amerikaner in Sicherheit waren. Das versuchte Kommando-Unternehmen, die als Geiseln festgehaltenen 53 amerikanischen Diplomaten in Teheran zu befreien, war gescheitert. Bis heute dauern die Spannungen zwischen den USA und dem Iran infolge dieser Affäre an.
Dem Bundeskanzler zuvorgekommen
„Wann immer ich im Besitz von Informationen bin, die Menschenleben gefährden könnten, veröffentliche ich sie nicht“, hat sich Gurdus zum Grundsatz gemacht. Verhängnisvoll wäre fast der Mitschnitt eines Gesprächs zwischen einem Flugzeug der GSG 9 und dem Bonner Krisenzimmer 1977 geworden. Die Maschine befand sich auf dem Weg nach Mogadischu in Somalia, wo die von palästinensischen und libanesischen Terroristen entführte Lufthansa Boeing 737-230 „Landshut“ stand. Minister Ben Wisch (Hans Jürgen Wischnewski) sprach unter dem Tarnnamen „Oscar X-Ray“ ganz offen mit dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt. Schließlich erlebte Gurdus per Kurzwellenfunk die eigentliche Befreiungsoperation hautnah mit. GSG 9-Kommandant Ulrich Wegener funkte im Klartext den Fortgang der Operation nach Bonn. Im israelischen Rundfunk berichtete Gurdus vom erfolgreichen Abschluss der Operation, noch ehe Bundeskanzler Schmidt informiert werden konnte …
Vorwürfe, dass er durch seine fortlaufende Berichterstattung die Befreiungsoperation der GSG-9 fast zum Scheitern gebracht hätte, weist Gurdus von sich. Die BBC habe noch vor ihm gemeldet, dass sich die GSG-9 auf dem Weg nach Mogadischu befinde. Außerdem habe sich Gurdus durch Abhören des Sprechfunks der Terroristen mit dem Kontrollturm in Mogadischu vergewissert, dass die Entführer keinerlei Information von außen bekämen. Die Frage drängt sich auf, ob Gurdus vielleicht für den israelischen Geheimdienst arbeitet. Er selbst bestreitet das. Seinen Reservedienst leiste er nichts tuend beim Militärsprecher. Und ansonsten vermutet Gurdus, dass die israelischen Geheimdienstler noch viel besser informiert seien als er. Sie arbeiten rund um die Uhr, während Gurdus täglich einige Stunden Schlaf braucht. Er benutzt nur Quellen, die letztlich jedem offenstehen. Aber nur wer Geduld besitzt, manchmal gar 24 Stunden am Tag die Nachrichtensendungen aus aller Welt abzuhören, den See- und Luftverkehr auf Ausnahmesituationen hin zu belauschen und in der „Freizeit“ nach neuen Frequenzen zu suchen, kann es ihm nachtun.
So wie andere Journalisten zu Pressekonferenzen gehen oder Straßeninterviews machen, klopft Gurdus die Kurzwelle auf Neuigkeiten ab. Und selbst heute noch, im Zeitalter von Internet und Satellitentelefon, Direktübertragungen und anderen Übermittlungsmethoden, gelingt es ihm immer wieder, Informationen zu ergattern, an die sonst kaum ein anderer Journalist so schnell herankommt.
Die Reportage ist dem Buch „Alltag im Gelobten Land“ entnommen, das 2010 bei „Vandenhoeck & Ruprecht“ erschien.
Ulrich W. Sahm