„Unter den Fasttagen nimmt der Versöhnungstag eine besondere Stellung ein, er ist Festtag und Fasttag zugleich.“ Dies schreibt der deutsch-jüdische Gelehrte Ismar Elbogen in seinem Buch „Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung“, dessen erste Auflage 1913 erschien. Der Große Versöhnungstag Jom Kippur am 10. Tag des Monats Tischrei schließt die zehn Bußtage zum Auftakt des jüdischen Jahres ab. In diesem Jahr beginnt er am Abend des 29. September.
Jom Kippur gilt als der Schabbat schlechthin. Von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang fasten Juden an diesem Tag. In der Synagoge wird das Buch Jona gelesen. Der biblische Prophet widersetzte sich Gottes Auftrag, den Menschen in Ninive eine Bußpredigt zu halten. Stattdessen bestieg er ein Schiff, das ihn möglichst weit in die westliche Gegenrichtung bringen sollte – nach Tarsis in Spanien. Doch Gott brachte ihn zur Umkehr, er predigte den Menschen in Ninive das Gericht, und sie kehrten von ihren bösen Wegen um. Die Stadt wurde nicht zerstört, sondern besteht bis heute.
Gebete ersetzen Opfer
In 3. Mose 23,26–32 heißt es zu dem Fasttag: „Und der HERR redete mit Mose und sprach: Am zehnten Tage in diesem siebenten Monat ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr eine heilige Versammlung halten und fasten und dem HERRN Feueropfer darbringen und sollt keine Arbeit tun an diesem Tage, denn es ist der Versöhnungstag, euch zu entsühnen vor dem HERRN, eurem Gott. Denn wer nicht fastet an diesem Tage, der wird aus seinem Volk ausgerottet werden. Und wer an diesem Tage irgendeine Arbeit tut, den will ich vertilgen aus seinem Volk. Darum sollt ihr keine Arbeit tun. Das soll eine ewige Ordnung sein bei euren Nachkommen, überall, wo ihr wohnt. Ein feierlicher Sabbat soll er euch sein und ihr sollt fasten. Am neunten Tage des Monats, am Abend, sollt ihr diesen Ruhetag halten, vom Abend an bis wieder zum Abend.“
Bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach der Zeitrechnung betrat der Hohepriester am Jom Kippur das Allerheiligste. Er opferte einen Ziegenbock und schickte einen zweiten in die Wüste, nachdem er ihn symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen hatte. Nach dem Verlust des Heiligtums in Jerusalem ersetzten jüdische Gelehrte das Opfer durch Gebete.
Wie in der Bibel geboten, steht das öffentliche Leben in Israel an diesem Tag still. Deutlich mehr noch als an einem gewöhnlichen Schabbat verzichten Juden auf das Autofahren, außer in Notfällen. Die freien Straßen bevölkern Kinder mit Fahrrädern, Skateboards und Rollschuhen. Säkulare Onlinezeitungen teilen mit, sie würden ihre Berichterstattung nach dem Ende des Fastens wiederaufnehmen. Selbst viele Juden, die sich selbst als weltlich einstufen, gehen am Jom Kippur in die Synagoge und fasten. Im Mittelpunkt der Gottesdienste stehen die „Slichot“-Gebete – die Bitten um Vergebung.
Freude über Gottes Gnade
Slicha „bedeutet Verzeihung, die Vergebung von Sünden, die bei Gott zu finden ist (Psalm 130,4), die von seiner Barmherzigkeit erfleht wird (Daniel 9,9)“, merkt Elbogen an. „Gott hat den Menschen die Sündenvergebung verheißen und ihnen den Weg gewiesen, auf dem sie sie finden können. Er hat das Bußgebet gelehrt, das niemals ungehört verhallt; auf das Wort ‚Hilf, o Gott‘ antwortet er, so oft wir ihn anrufen (Psalm 20,10).“ So sagte denn auch der Jerusalemer Rabbi Jitzhak Naki gegenüber Israelnetz: „Es ist ein Tag der Freude, weil wir Sühne von Gott empfangen.“
Jona hatte schließlich seinen Irrweg bereut. Er kehrte um und fand Gnade vor Gott. Juden, die am Jom Kippur beten, haben die Hoffnung, dass es ihnen nach ihrer Buße ebenso ergehen wird. Elbogen schreibt weiter: „Das Gebet um Vergebung hatte nur dann einen Sinn, wenn ein Bekenntnis voranging, und zwar neben dem traditionellen Sündenbekenntnisse, das zu jeder Fastenliturgie gehört, eine Schilderung der menschlichen Sündhaftigkeit und Schwäche einerseits, der Vollkommenheit und Gnade Gottes anderseits.“ Viermal wirft sich ein Jude am Versöhnungstag zu Boden, sonst wird im Stehen gebetet.
Das traditionelle Widderhorn, der Schofar, verkündet das Ende des Feiertags. Gott besiegelt in diesem Augenblick nach jüdischer Auffassung sein Urteil über das weitere Leben der Betenden. Wie auch am Schabbat kennzeichnet das Havdala-Gebet, das zwischen Heiligem und Weltlichem trennt, den Beginn des Alltags. Nun beginnen die Fastenden wieder mit Essen und Trinken. Manche fangen schon an, die Laubhütte für das bevorstehende Sukkot-Fest zu bauen.
Jom-Kippur-Krieg: Überraschungsangriff am Fasttag
Vor 44 Jahren, am 6. Oktober 1973, griffen arabische Truppen während des Feiertages Israel an. Trotz der Überraschung konnten die Israelis den Krieg am Ende für sich entscheiden. Er ging als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichte ein.
Von: Elisabeth Hausen