JERUSALEM (inn) – Israel hat der 23.544 Gefallenen und Terror-Opfer gedacht, die seit dem Jahr 1860 gestorben sind. Am Sonntagabend und am Montagmorgen gab es anlässlich des Gedenktages „Jom HaSikaron“ landesweite Schweigeminuten, bei denen Sirenen ertönten. Politiker sprachen bei verschiedenen Veranstaltungen zu Soldaten und zu trauernden Angehörigen.
Bei einer Zeremonie im Gedenken an die Opfer von Anschlägen kritisierte Premierminister Benjamin Netanjahu am Montag Attentäter, die bei ihren Ofern keinen Unterschied machten: „Terroristen greifen mit der Absicht an, ein Verbrechen zu begehen, gegen Juden und Nichtjuden, hier und im Ausland, mit dem Ziel, Tod, Zerstörung und Furcht zu säen. Sie saugen die Hetze gegen unser Volk mit ihrer Muttermilch auf. Sie werden in der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, als Helden betrachtet. Aber wie kann ein Junge, der ein Messer nimmt, ins Zimmer eines unschuldigen Mädchens einbricht und es im Schlaf ersticht, ein Held sein?“
Netanjahu übte auch Kritik am Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas: „Wie kann man über Frieden mit Israel sprechen, während man Mörder von unschuldigen Menschen finanziert?“, zitiert ihn die Tageszeitung „Yediot Aharonot“. „Sie wollen etwas für den Frieden tun, den wir alle wollen? Hören Sie auf, diese Terroristen zu finanzieren. Finanzieren Sie Frieden, nicht Mord.“ Den trauernden Angehörigen sprach der Regierungschef zu: „Solidarität ist das Geheimnis unserer gemeinsamen Existenz.“
Terror-Opfer nicht vergessen
Für die Opfer und ihre Angehörigen sprach Abe Moses. Er hatte 1987 Ehefrau und Sohn durch einen Molotowcocktail verloren, der auf ihr Fahrzeug geworfen wurde. „Seit 30 Jahren bin ich Teil einer großen Familie, einer zu großen Familie“, sagte er mit Bezug auf die anderen trauernden Angehörigen. „Diese verfluchten Mörder machen keinen Unterschied zwischen Babys, Unschuldigen oder irgendeinem anderen. Mein eigener Körper zeigt deutlich diese Narben.“ Er drückte die Hoffnung aus, dass diejenigen, die durch Terror gestorben sind, nicht in Vergessenheit gerieten.
Seit der israelischen Staatsgründung 1948 wurden 3.117 Bürger durch Terrorakte getötet. Zu ihnen zählen 122 Ausländer, die in Israel starben, sowie 122 Israelis, die im Ausland ums Leben kamen. Sie hinterließen 109 Vollwaisen, 826 Verwitwete und 939 hinterbliebene Eltern.
„Wir alle sind Brüder“
Netanjahu sprach auch bei einer Zeremonie für die gefallenen Soldaten. Dabei erinnerte er an seinen Bruder Jonathan, der 1976 bei der Befreiung von Geiseln eines entführten Flugzeugs im ugandischen Entebbe getötet wurde. „Bürger Israels, wir alle sind Brüder, in guten und schlechten Zeiten. Wir kennen den Preis, den unsere Lieben gezahlt haben.“ Der Premier äußerte den Wunsch auf eine baldige Rückkehr von Hadar Goldin and Oron Schaul, die vermutlich während der Militäroperation „Starker Fels“ 2014 im Gazastreifen gefallen sind. Ihre Leichen werden von der Hamas festgehalten.
Auf dem Kirijat-Scha’ul-Friedhof in Tel Aviv sprach indes Justizministerin Ajelet Schaked. Sie bekundete die Hoffnung, eine Gesellschaft aufzubauen, die den Gefallenen würdig ist. „Eine Gesellschaft, die unsere Unabhängigkeit verfestigt und unser Licht wahrt. Eine Gesellschaft, die Diskriminierung austreibt und dabei Einheit, Solidarität und Dienst an unserem Land als Kernwert nährt. Eine Gesellschaft, die weiter ihre Feinde bekämpft und siegreich im Kampf sein wird, den sie gekämpft haben und für den sie gefallen sind.“ An dieser Zeremonie beteiligte sich auch Verteidigungsminister Avigdor Lieberman.
Bereits am Sonntagabend hatte der Jom HaSikaron mit einer Gedenkveranstaltung an der Jerusalemer Klagemauer begonnen. Staatspräsident Reuven Rivlin sagte: „An dieser Mauer der Tränen und Hoffnungen erinnern wir heute Abend, 50 Jahre nach der Befreiung Jerusalems, daran: Unsere Freiheit ist heilig und auch hart. Wir wissen, dass ein Preis für unsere Existenz hier, für unsere Freiheit bezahlt werden muss.“ Israel sei bereit, jenen Preis zu zahlen. Die Israelis müssten allezeit bereit und immer einen Schritt voraus sein. „Dafür muss sich die israelische Armee den vor ihr liegenden Aufgaben völlig widmen. Die israelische Armee, das sind wir alle: Sie verteidigt uns und wir verteidigen sie.“
Protest gegen Gedenken an gefallene Haredim
Viele ultra-orthodoxe Juden lehnen einen Militärdienst ab. Doch auch unter den Haredim gibt es Israelis, die als Soldaten ihr Leben gelassen haben. Einer von ihnen war Jitzhak Levinstein. Er wurde 1950 in Jaffa geboren und starb mit 17 Jahren im Oktober 1967. Drei Monate zuvor hatte er seinen Wehrdienst begonnen. Er wurde von jordanischen Terroristen aus einem Hinterhalt erschossen, als er auf der Damia-Brücke an der israelisch-jordanischen Grenze Wache schob.
Am Montag versammelten sich an seinem Grab in der ultra-orthodoxen Stadt Bnei Brak bei Tel Aviv einige Haredim, aber auch säkulare Israelis. Sie gedachten der Gefallenen der ultra-orthodoxen Gemeinschaft. Dabei wurden sie durch Zwischenrufe und Rempeleien von Haredim unterbrochen. Die Demonstranten beschuldigten Israel, einen „Holocaust am Judentum“ zu verüben, indem es Säkularismus gedeihen lasse. Die Veranstalter riefen die Polizei, welche die Demonstranten ans andere Ende des Friedhofes zurückdrängte.
Die Zeremonie hatten die rechtsgerichtete Organisation „Im Tirzu“ und der ultra-orthodoxe Flügel des Likud organisiert. Der drusische Minister Ajub Kara sprach in seiner Rede von „religiösem Extremismus“, schreibt die Onlinezeitung „Times of Israel“. Am Ende sangen die Teilnehmer die israelische Nationalhymne. Die Veranstaltung fand zum zweiten Mal statt. Beim ersten Versuch war sie wegen der Aufdringlichkeit der Gegendemonstranten vorzeitig beendet worden.
Ihre Loyalität zum jüdischen Staat bekundeten israelische Passagiere am Sonntag auf einem Lufthansa-Flug von Marrakesch nach München: Um 20 Uhr israelischer Zeit standen sie auf und hielten im Gang eine Schweigeminute für die Gefallenen und die Terror-Opfer ab. Ein Bewohner von Petach Tikva sagte im Gespräch mit „Yediot Aharonot“, die anderen Passagiere seien zuerst verwirrt darüber gewesen, dass eine so große Gruppe sich schweigend erhob. „Wir haben ihnen erklärt, was der Gedenktag für uns bedeutet und dass zu genau dieser Zeit in Israel Millionen Menschen zu Ehren der Gefallenen aufstehen. Es war sehr bewegend.“ Ein Mitreisender erzählte, die nicht-israelischen Passagiere seien beeindruckt gewesen.
Nach Anschlag: Palästinenser konnten nicht einreisen
Seit zwölf Jahren organisieren linksgerichtete Gruppen am Jom HaSikaron eine israelisch-palästinensische Gedenkveranstaltung in Tel Aviv. Erstmals waren in diesem Jahr keine Palästinenser zugelassen. Etwa 225 hatten ihr Kommen angemeldet. Doch die Behörden verweigerten ihnen den Eintagespass. Grund war der Angriff eines Palästinensers am 23. April in der Küstenmetropole. Er hatte mit einer Drahtschere vier Menschen leicht verletzt. Anschließend stellte sich heraus, dass der Attentäter mit solch einem Pass nach Israel gelangt war. Die Organisatoren kritisierten das Verbot ebenso wie Abgeordnete aus dem linken Spektrum, die bei der Veranstaltung mit etwa 4.000 Teilnehmern sprachen.
Unterdessen trafen sich interessierte Palästinenser in Beit Dschala bei Bethlehem, wo sie das Geschehen in Tel Aviv per Videoübertragung verfolgten. Rechtsgerichtete Israelis protestierten vor der „Shlomo-Group-Arena“ gegen die Veranstaltung. Es gab mindestens eine Festnahme.
Trauernde sprechen sich für Frieden aus
Die erste Rednerin im Saal war Meital Ofer. Ihr Onkel Jitzhak fiel am 11. Oktober 1973 im Jom-Kippur-Krieg. Genau 40 Jahre später erschlugen Palästinenser ihren Vater Sarija Ofer vor seinem Wohnhaus im Jordantal. Im Verhör sprachen die Mörder von einem „Geschenk für Hamas-Häftlinge zu Ehren des Opferfestes Eid al-Adha“.
Die Tochter sagte: „Sie ermordeten ihn, weil er ein Reserveoberst war. Sie ermordeten ihn, ohne ihn überhaupt zu kennen, ohne zu wissen, was für ein besonderer Mensch er war, ohne zu wissen, wie sehr die Menschen ihn liebten, wie einzigartig er in dieser Welt war.“ Sie wolle ihren Kindern eine Zukunft der Koexistenz an diesem Ort sichern. „Ich möchte ihnen Hoffnung geben, nicht als Slogan, sondern als etwas Wirkliches.“
Der Palästinenser Si’am Nawara hatte seine Ansprache vorher auf Video aufgezeichnet. Sein 17-jähriger Sohn Nadim wurde 2014 bei einem gewaltsamen Protest nahe Ramallah von einem Grenzpolizisten erschossen, der entgegen der Order scharfe Munition benutzt hatte. Ein Video legt nahe, dass Nadim nicht direkt bei der Demonstration stand und offensichtlich keine unmittelbare Bedrohung für die Grenzpolizisten darstellte.
Im Januar stimmte der Polizist Ben Deri einem Deal zu: Er gestand, dass er versehentlich scharfe Munition verwendet habe. Der trauernde Vater sprach darüber, wie schwer es für ihn gewesen sei, seinen Sohn exhumieren zu lassen. Er fügte an: „Ich hätte mich für Rache oder Zorn oder Hass entscheiden sollen, doch nachdem ich tief darüber nachgedacht hatte, entschied ich mich für den Weg des Friedens, des Rechts, der Gewaltlosigkeit und Toleranz.“
Hoffnung auf Sieg durch Koexistenz
Auch die Palästinenserin Marian Saadah war in einem Video zu sehen. Ihre zwölfjährige Schwester Christine wurde 2003 von der israelischen Armee getötet. Die Soldaten hatten das Auto ihrer Familie versehentlich für das eines Hamas-Vertreters gehalten und das Feuer eröffnet. Christine starb, der Rest der Familie wurde verwundet, auch auch Marian. „Obwohl die Politiker versagt haben, hoffe und glaube ich, dass die Nationen sich zu einem vollständigen Sieg hinsteuern können, durch Koexistenz, Gleichheit und Gerechtigkeit. Dann können wir in Hoffnung und Frieden leben“, äußerte sie in ihrer Ansprache.
Zu den Organisatoren der Veranstaltung gehört das „Familienforum“. Dessen Mitbegründer Roni Hirschenson erinnerte an seine beiden Söhne. Amir war Soldat, als er 1995 bei einem Selbstmordanschlag zu Tode kam. Fünf Jahre später nahm sich dessen Bruder Elad das Leben, nachdem sein bester Freund bei einem Attentat gestorben war. „Das Töten ist aus einem einfachen Grund weitergegangen: Es gibt keinen Frieden. An dem Tag, an dem wir einander völlig vertrauen können, wird Friede zu uns und unseren Nachbarn kommen“, folgerte der Vater.
Der Jom HaSikaron endete am Montagabend mit einer Fackelzeremonie auf dem Jerusalemer Herzlberg. Er ging unmittelbar in den 69. israelischen Unabhängigkeitstag, Jom HaAtzma’ut, über.
Von: eh