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Gebeugt, nicht gebrochen

Als Jugendliche überlebte Giselle Cycowicz das Vernichtungslager Auschwitz. Heute hilft die 88-Jährige anderen Opfern – obwohl sie selbst eine schwere Last trägt.
Giselle Cycowicz hat durch das Studium Mut bekommen, anderen Scho'ah-Überlebenden zu helfen
Ihr Rücken hat viel aushalten müssen, noch mehr tragen müssen. Die Last der eigenen Erinnerungen und die Last anderer haben ihn gebeugt, aber stark gemacht. „Nein nein“, wehrt die freundliche, energiegeladene ältere Dame mit einer energischen Geste ab, als man ihr einen bequemen Sessel anbietet. Sie möchte lieber stehen beim Gespräch. Sie wird von den Umstehenden überragt, obwohl sie auf dem Podium steht. Aber das stört sie nicht. Sie hat den Holocaust überlebt. Nach der Podiumsdiskussion im Jüdischen Museum in Berlin drängen sich Zuhörer um Giselle Cycowicz. Im Gespräch berichtet sie, wie sie ihre eigenen traumatischen Erlebnisse im Psychologiestudium überwunden hat und danach anderen dabei helfen konnte, ihre schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten. Giselle Cycowicz kam 1927 in den tschechoslowakischen Karpaten zur Welt. Ihre Stadt Chust wurde 1944 von den Deutschen besetzt. Etwa ein Drittel der rund 20.000 Einwohner wurden unmittelbar in ein Ghetto gepfercht. Giselle war 17, als sie die drei Tage dauernde Deportation nach Auschwitz über sich ergehen lassen musste. Zusammen mit den Eltern und der Schwester. Der Vater wurde in Auschwitz von den Nazis umgebracht. „Es waren viele Wunder“, sagt sie heute, dass die Mutter überleben konnte. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager machte sie sich zunächst auf in ihre Heimat, nach Chust: „Nach meiner Befreiung bin ich nach Hause gegangen, durch die Tschechoslowakei gelaufen. Wir hatten Angst vor der russischen Armee.“ Sie erinnert sich: „All die Menschen. Nur noch ein paar Lumpen am Leib. Schrecklich aussehend. Jeder fragte den anderen: ‚Hast du meine Schwester gesehen? Sie heißt Clara Schwarz.‘ – ‚Hast du meine Mutter gesehen?‘ Jeder war voll Angst auf dem Heimweg, weil keiner wusste, was ihn daheim erwartet.“

Flucht aus der Arztpraxis

Die Überlebende ist der Meinung, darüber müsste man einen Film machen. „Alle waren voll Angst. Die Menschen waren traumatisiert von dem, was gerade mit ihnen geschah und von dem, was daheim auf sie wartet.“ Die Ungewissheit, die quälende Ungewissheit greift noch einmal nach ihr: „Ich weiß bis heute nicht, wie viele meiner Freundinnen überlebt haben. Ich habe keine Ahnung. Meine Verwandten, meine Onkel, …. Ich weiß bis heute nicht, wer am Leben geblieben ist.“ Cycowicz erzählt von einem ihrer Onkel: „Er war Rabbiner, ein Bezirksrabbiner …“ Sie hält einen unangenehmen Moment lang inne, schluckt. „Ich bete immer für ihn. Er hatte 60 Nachkommen, Kinder und Enkel. Nicht einer ist nach Hause gekommen, um seinen Kaddisch zu beten.“ Daheim fand sie damals das Haus der Eltern leergeräumt, alles war gestohlen. Nur das leere Bücherregal des Vaters war noch dort. „Die religiösen Bücher waren verstreut und verdreckt. Das hatte man mit Absicht gemacht“, sagt sie rückblickend. Als sie nach der Befreiung, im Alter von 19 Jahren, an der Schilddrüse erkrankt, lässt sie sich in München von einem Spezialisten untersuchen. Der Arzt kommt zu dem Befund, dass nur eine Operation helfen kann. Das verdeutlichte er der jungen Frau mit einer Geste, die einen Schnitt am Hals andeutet. „Das war ein Jahr nach Auschwitz“, sagt Giselle Cycowicz und schlägt die Hände vor der Brust zusammen. „Ein deutscher Arzt sagt mir, er muss mich am Hals operieren … Ich habe Angst bekommen. Ich bin weggelaufen. Es war ein furchtbares Erlebnis, das zu hören.“

„Ist der Wein koscher?“

1945 geht Giselle Cycowicz für ein Jahr ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina. „Das war das schönste Jahr in meinem ganzen Leben. Nach Auschwitz in einem freien, jüdischen Land zu sein, wo ….“ Sie hält erneut inne, erinnert sich an die Zeit in Israel und fährt schließlich fort: „Ich kann es nicht beschreiben. Die Leute waren so arm. Wir haben kaum ein Stückchen Fleisch gegessen. Aber, es war so schön. Aufregend. Freundlich. Wir haben uns mit allen gefreut. Jeder hatte eine Last zu tragen.“ Eine Bedienung reicht ein Tablett mit einem einzelnen Glas Rotwein an. „Koscher?“, fragt Cycowicz und richtet sich auf, so gut es geht. Ja, der Wein sei koscher, versichert die Bedienung. Die schmalen, alten Hände mit dem dezenten Schmuck und den gepflegten Fingernägeln ergreifen das Glas. Sie zittern ein wenig. Ein erster, kleiner, prüfender Schluck lässt das Gesicht der alten Dame aufblitzen. „Gut“, urteilt sie. „Sehr gut“ befindet sie nach dem zweiten Schluck über den Rotwein und schenkt der Bedienung ein so freundliches und dankendes Lächeln, dass alle Umstehenden am liebsten von dem Getränk kosten würden.

Das Studium gab ihr Leben

„Mit meinen zwei Schwestern und mit 100 Dollar haben wir in den USA angefangen“, erinnert sie sich an die Auswanderung in die Vereinigten Staaten 1948. Ein Bekannter leiht den Schwestern 1.000 Dollar, und so können sie die Mutter aus der Slowakei freikaufen. Giselle arbeitet zunächst als Fabrikarbeiterin, lernt Englisch. Der Wunsch, zu heiraten und Kinder zu bekommen, treibt sie an. Sie heiratet, wird Mutter. „An dem Tag, als ich unser dreijähriges Kind in den Kindergarten brachte, ging ich ans College, um mich einzuschreiben.“ Das Studium erfüllt die junge Frau. „Die Kurse haben mir Leben gegeben“, erzählt sie. „Ich habe alles in mich aufgesogen. Als ich begann, mich wissenschaftlich mit dem Thema auseinander zu setzen, verminderten sich meine eigenen traumatischen Erlebnisse.“ Nach dem Studium arbeitete sie als Psychologin in New York. „Die Einsamkeit ist das größte Problem der alten, traumatisierten Menschen“, sagt sie heute. Nach ihrer Emigration nach Israel im Jahr 1988 begann sie, für „Amcha“ zu arbeiten. Bis heute ist sie bei der Organisation aktiv, die Holocaustüberlebende unterstützt. „Jeder kann helfen“, antwortet sie auf die Frage, ob denn auch christliche Organisationen eine Hilfe für die Überlebenden der Scho‘ah sind. „Alle Überlebende des Holocaust haben furchtbare Erlebnisse. Sie können jede Hilfe gebrauchen. Sie brauchen Unterstützung. Als wir befreit wurden, 1945, und der Krieg aus war, haben wir für die nächsten fünf bis zehn Jahre keine Hilfe gehabt. Niemand hat sich ums uns geschert. Wir hatten keinen Platz, an den wir gehen konnten. Jeder kann helfen.“ Schließlich muss sich Giselle Cycowicz doch setzen, der Last der Jahre einen kleinen Tribut entrichten. Ihr Rücken, gebeugt aber gestählt, wird auch morgen nicht davor zurückschrecken, Lasten anderer auf sich zu nehmen. (nob)

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