Von einer Aussichtsplattform des Münchner Olympiaturms geht der Blick auf den Olympiapark hinab. Im Hintergrund hängen Schilder, die über die Olympischen Spiele 1972 berichten. Über eine Treppe ist die Plattform eine Etage tiefer zu erreichen. Von dort führt ein Aufzug mit dem Drücken des Knopfes nach unten in eine ganz andere Welt – die 50 Jahre zurückliegt.
Unvorstellbar? Naja, zugegebenermaßen spielt sich dieses Szenario nicht wirklich im Olympiapark ab, sondern im „Digital Art Space“ in der warmen Münchner Innenstadt. Möglich macht das Ganze eine VR-Brille, die Besucher glauben lässt, sie seien ganz woanders. Mithilfe eines Controllers ist es ganz einfach, sich durch diese Virtuelle Realität (VR) zu manövrieren.
Der Bayerische Rundfunk (BR) stellt hier ein Projekt vor. Es ist Teil des Themenschwerpunktes, innerhalb dessen dieses Jahr auf die Olympischen Spiele in München vor 50 Jahren zurückgeschaut wird. „München 72“ ist eine virtuell begehbare Ausstellung, die ortsunabhängig besucht werden kann – und zwar mit oder ohne VR-Brille.
Von den heiteren Spielen zum schrecklichen Attentat
Zurück in die virtuelle Welt. Vom Olympiaturm geht es weiter zu den heiteren Spielen: grüne Wiesen, blauer Himmel, Farben überall. So waren sie ja auch: die ersten Tage der Olympischen Spiele. Hier finden sich nicht nur Informationen zu den israelischen Sportlern, sondern auch zum Auftreten der DDR bei den Spielen oder dem Designer Otl Aicher, der die grafische Gestaltung geprägt hat. Auch ein Stadion lässt sich erkunden.
Von diesem geht es weiter in die nächste Welt: ein düsterer, grauer Gang. Eine Tür steht offen: Ein karger Raum mit ein paar Betten und einem Fernseher. Hier wird die Geschichte der Schreckenstat erzählt. Acht Palästinenser hatten sich am frühen Morgen des 5. Septembers ins Olympische Dorf geschlichen und elf von der israelischen Sportler Delegation als Geiseln genommen. Ihre Forderung: Mehr als 200 palästinensische Gefangene sollten aus israelischer Haft freigelassen werden. Alle Befreiungs- und Verhandlungsversuche der Verantwortlichen vor Ort scheiterten.
In der nächsten Welt ist es inzwischen Nacht geworden. Ein Stau hat sich vor dem Flugplatz Fürstenfeldbruck gebildet. Eine Tafel am Fahrbahnrand erklärt, was nun geschah: Die Geiselnehmer forderten, mit den Geiseln nach Kairo ausgeflogen zu werden. Die Polizei ging auf die Forderung ein. Geplant war, die Geiseln vor Abflug auf dem Flugplatz zu befreien.
Tragischer Ausgang
Auf einer Leinwand am Ende des Staus ist ein Teil der Pressekonferenz zu sehen, bei der der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und der bayerische Innenminister Bruno Merk (CSU) bekanntgeben, dass beim Befreiungsversuch alle Geiseln ums Leben kamen. Eine Nachricht, die die gesamte Welt erschütterte.
Weiter geht es in einen dunklen Tunnel. Dort zu sehen und zu hören: Aufnahmen des Schusswechsels am Flugplatz aus der Ferne. Am anderen Ende des Tunnels befindet sich der frei interpretierte Erinnerungsort der Macher der digitalen Ausstellung. Er erinnert an die 2017 eröffnete Gedenkstätte im Olympiapark. Auf schwebenden Tafeln sind Bilder der Opfer, ihre Namen und eine Kurzbeschreibung ihrer Person dargestellt.
Über das Flugfeld führt der virtuelle Weg danach in die Abflughalle. Beim Betreten dröhnt es beinahe in den Ohren: „The Games must go on“ – Die Spiele müssen weitergehen. Das war die Entscheidung des Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) Avery Brundage. Eine Entscheidung, die heute kaum mehr verständlich sei, steht auf einer der letzten Tafeln, die dort zu sehen sind. Man verlässt die Ausstellung mit einem mulmigen Gefühl – zu Recht. Denn das, was damals passiert ist, ist grausam und unvorstellbar.
Projekt als Beitrag zur Erinnerungskultur
Die Produzenten Eva Deinert und Matthias Leitner erklären im Gespräch mit Israelnetz, dass das ihre Absicht gewesen sei. Sie wollten weg von dem Narrativ der heiteren Spiele, die nach dem „unglücklichen Zwischenfall“ des Attentats einfach weitergingen. Sie wollen ihren Teil zu einer guten Erinnerungskultur beitragen. Eva Deinert erzählt, dass sie eine Veränderung in München beobachtet: Es sei eine größere Offenheit gegenüber der Erinnerung an die Spiele 1972 vorhanden.
In der Vorbereitung und Erstellung der digitalen Ausstellung waren sie eng mit dem Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Kontakt und haben Experten zu ihrem Projekt befragt. Es ist ein schmaler Grat, dieses so ernste Thema in einer doch eher spielerischen Atmosphäre aufzuarbeiten. Mit dem Ergebnis sind die beiden aber zufrieden.
Hinterbliebene halten Projekt für wichtig
Und nicht nur sie sind zufrieden. Sie konnten ihr Projekt auch Hinterbliebenen der Opfer vorstellen. Auch diese befanden laut Deinert und Leitner die digitale Ausstellung für gut und wichtig. Gerade um mit Schülern über dieses Thema ins Gespräch zu kommen, sei sie ein guter Einstieg.
Das sei auch ein Ziel dieses Projekts, erklärt Deinert. Die digitale Ausstellung kann zwar auch ohne VR-Brille an einem leistungsstarken Windows-PC besucht werden. Dennoch erwarten sie, dass dieses Projekt nicht die breite Masse erreichen wird. Aber gerade für junge Menschen und Geschichtsinteressierte könnte diese neue Form des individuellen Erlebens der Geschichte ansprechend sein.
Wer schon weiß, was damals vorgefallen ist, wird hier vermutlich keine neuen Informationen finden. Die Ausstellung erzählt die Geschichte in groben Zügen, geht dabei aber wenig in die Tiefe. Dennoch lohnt es, sich diese innovative Art des Geschichte-Erzählens einmal anzusehen. In die Tiefe gehen dafür aktuell andere Projekte des BR: Beispielsweise der Podcast „Himmelfahrtskommando“ von Patrizia Schlosser. Ihr Vater war Teil der geplanten Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck. Mit ihm geht sie gemeinsam auf eine Reise durch die Vergangenheit und versucht die Frage der Schuld zu klären.
Die digitale Ausstellung geht am 1. Juli online. Geplant ist, dass sie dann zwei Jahre zugänglich bleiben soll.
Von: Katharina Kraft
Eine Antwort
Ich kann mich sehr gut erinnern, wie entsetzlich das Ganze war und dann die Ignoranz, mit der die Spiele weitergingen. Ich habe seit dem Attentat keine olympische Veranstaltung mehr ansehen können