FARSLEBEN (inn) – Im sachsen-anhaltinischen Farsleben war der 13. April 1945 ein Tag der Befreiung für etwa 2.500 jüdische Häftlinge. Sie waren zusammengepfercht in Waggons von Bergen-Belsen nach Theresienstadt unterwegs, kamen aber nie dort an.
Unter ihnen gab es Alte, Junge und Kranke, geschwächt und traumatisiert vom Aufenthalt im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Viele waren bis auf die Knochen abgemagert und unter unsäglichen hygienischen Zuständen ohne Versorgung eingesperrt. Eine Woche lang ohne Kenntnis des Zieles, Irrfahrt ohne Pause. Unter den Häftlingen war auch Sara Atzmon (geb. Gottdiener), ein ungarisches jüdisches Mädchen mit seiner Familie, das kurz vor seinem zwölften Geburtstag stand und zu dem Zeitpunkt noch 17 Kilogramm wog.
Der 13. April ist für die Überlebenden dieses Transportes zum Gedenktag ihrer Befreiung geworden. Die Schrecken und das Grauen über das Erlebte wirken jedoch eingeschlossen in Erinnerungen weiter und lassen sie wohl nie wieder los. Ihrer und all der Opfer, die diesen Transport nicht überlebten, soll dieser Bericht gedenken.
Der „gestrandete Zug“ – wie kam es dazu?
Kurz vor der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen schickten die Deutschen noch drei Züge, überfüllt mit jüdischen Häftlingen, von dort in Richtung Theresienstadt, um sie als Geiseln für politische und wirtschaftliche Zwecke auszutauschen. Nur einer dieser drei Transporte traf in Theresienstadt ein. Die beiden anderen fuhren tagelang umher. In den Waggons eingezwängt litten die Menschen unter den unhaltbaren Zuständen wie Versorgungsmangel, Raumnot, jeglicher fehlender Hygiene und einem unerträglichen Geruch. Viele hielten diese Strapazen nicht durch und starben. Ihre Leichen lagen zwischen den Überlebenden.
Einer dieser beiden Züge wurde nach knapp zwei Wochen in Südbrandenburg bei Tröbitz durch die sowjetische Armee befreit, man nannte ihn später den „verlorenen Zug“. Den dritten „gestrandeten Zug“ befreiten amerikanische Panzereinheiten am 13. April 1945 in der Nähe von Farsleben bei Magdeburg. Die Menschen waren seit dem 6. April unterwegs. Eine Gruppe engagierter Ehrenamtlicher und Schüler in Projektarbeit widmeten sich der Aufarbeitung dieses Geschehens. Sie bemühen sich darum, die Erinnerung an den „gestrandeten Zug“ wachzuhalten.
Dazu sollen auch ein Gedenkstein an dem Zuggleis bei Farsleben und eine Sonderausstellung im Museum im sachsen-anhaltinischen Wolmirstedt helfen – im Gedenken an die etwa 2.500 jüdischen Häftlinge aus Bergen-Belsen.
Interview: Überlebende berieten Planer des Gedenksteines
Anette Pilz ist Museumsleiterin und Vorstandsmitglied des Fördervereins „Gestrandeter Zug“ e.V. Sie beantwortete dazu Fragen in einem Interview.
Israelnetz: Frau Pilz, wie kam es zu der Initiative, die sich mit dem Gedenken an die Opfer des Zuges und der Aufarbeitung ihrer Geschichte befasst und zu dem Projekt, einen Ort des Erinnerns zu schaffen?
Anette Pilz: In der Vergangenheit waren bereits Viele interessiert und engagiert, es kam nur noch nicht in die Öffentlichkeit. Mehreres verband sich miteinander. Ein engagierter Hobbyhistoriker widmete sich schon seit längerem der Aufarbeitung. Die Gymnasiallehrerin Frau P. und ihre Projektgruppe organisierten Lesungen mit Überlebenden aus New York und London. Vieles fügte sich ineinander, der Förderverein „Gestrandeter Zug“ e.V. wurde gegründet.
Es waren mehr als nur ein paar Gedanken. Ein Informationsleitsystem sollte an den Orten des Geschehens errichtet werden, ein Gedenkstein aufgestellt und die Geschichte des „gestrandeten Zuges“ in einer Sonderausstellung erforscht und aufgearbeitet werden. Es entwickelte sich eine Eigendynamik des Projektes „Gedenkstein und Museum Sonderausstellung“, die man vorher nicht überschauen konnte. Planungen und Möglichkeiten waren vorher nicht absehbar.
2020, zum 75. Jahrestag der Befreiung, wollten wir das Projekt in die Öffentlichkeit bringen. Wir planten eine Gedenkveranstaltung, vorbereitet mit Einladungen an Holocaust-Überlebende unter anderem aus den USA und Israel. Aus aller Welt wollten Leute anreisen, dann kam der Lockdown.
Zur Gestaltung des Gedenksteines gaben Holocaust-Überlebende Rat. Der Text „Befreiung 13. April 1945“ sollte in deutscher, englischer und hebräischer Schrift durch einen Steinmetz eingraviert werden. Unter anderem wurde eine Radtour organisiert, auf der für den Gedenkstein gespendet werden konnte. Der Zug war im Ausland mehr bekannt als in der Region und in der DDR Zeit in Vergessenheit geraten. Die Geschichte des Zuges bei Tröbitz wurde besser aufgearbeitet, den befreite die sowjetische Armee im Gegensatz zu diesem, der von amerikanischen Panzereinheiten befreit wurde.
Zwei Hickorybäume, eine Art Walnussgewächs, konnten aber zwischenzeitlich an dem Ort der Befreiung gepflanzt werden. Der Name war ein Markenzeichen des amerikanischen Bataillons, die Kompanie nannte sich „Old Hickory“.
Auf dem Friedhof in Farsleben sind über 30 Todesopfer begraben, die den Transport nicht überlebten. In Hillersleben, circa 10 Kilometer entfernt, befand sich eine Heeresversuchsanstalt für verschiedene Waffengattungen. Nach der Befreiung des Zuges brachten die Amerikaner die Kranken auch dorthin zur Versorgung und Behandlung. Zusätzlich zum bereits vorhandenen Krankenhaus errichteten die US-Amerikaner ein Lazarett für die vielen Erkrankten. Noch über 130 Häftlinge starben in Hillersleben an den Folgen von Schwäche und Krankheiten. Sie sind auf einem jüdischen Friedhof begraben, der heute inmitten eines großen Solarparks liegt.
Wie sind Sie an die Anschriften gekommen, um die Holocaust-Überlebenden zur Gedenkfeier einzuladen?
Es gibt einen Blog, und viele Holocaust-Überlebende waren durch frühere Forschungen bereits bekannt.
Waren Sie selbst schon einmal in Israel?
Ja, ich war vor über zwölf Jahren mit einer Reisegruppe in Israel. Es war mir ein Bedürfnis, dort hinzufahren, es ist Teil der Geschichte und selbstverständlich. Eine weitere Reise ist geplant, wenn es wieder möglich ist.
Vielen Dank für das freundliche Gespräch!
Die Museums-Sonderausstellung des „gestrandeten Zuges“ ist für Besucher in Wolmirstedt geöffnet. Eine dazugehörige Begleitbroschüre kann im Museum erworben werden. Der Gedenkstein findet zum 76. Jahrestag der Befreiung seinen Bestimmungsort.
Dreimal im Zug deportiert
Die Zeitzeugin Sara Atzmon erlebte diesen Tag der Befreiung als zwölfjähriges Mädchen. Für sie und ihre aus Ungarn stammende Familie war dies bereits der dritte Transport während des Holocausts. Insgesamt waren sie ungefähr 23 Tage in solchen Waggons unterwegs. Von Ungarn sollte die Familie zunächst nach Auschwitz gebracht werden. Der Zug stand aber vor Ausschwitz tagelang fest, bevor er ins Durchgangslager Strasshof nach Heidenreichstein in Österreich umgeleitet wurde. Dort verstarb ihr Vater.
Ein halbes Jahr später saß die Familie wieder für eine Woche in überfüllten Waggons, diesmal bei winterlichen Verhältnissen, bis sie im Dezember 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ankamen. Dann folgte die dritte unmenschliche Strapaze und eingebrannte Erinnerung an den Transport, für die Eingesperrten mit unbekanntem Ziel, die dann bei Farsleben in der Nähe von Magdeburg durch amerikanische Panzereinheiten beendet wurde. Für die Häftlinge war es der Tag der Befreiung und des neu geschenkten Lebens.
Sara Atzmon lebt heute mit Ehemann, Kindern, Enkeln und Urenkeln in Israel. Sie hat als bildende Künstlerin einen Namen. Im Gespräch mit Israelnetz erzählt sie:
Starke Gefechte vor der Befreiung
„Am 6. April mussten wir, alle geschwächt, zu Fuß mehrere Kilometer vom Konzentrationslager Bergen-Belsen zum Bahnhof marschieren. Dort wurden wir auf Zugwaggons verladen. Fast eine Woche fuhren wir nur hin und her, bis wir bei Farsleben befreit wurden. In der Nacht vor der Befreiung gab es starke Gefechte mit den Amerikanern, die deutschen Soldaten sind geflohen.
Vorher wurde der Zug vor einer Brücke abgestellt und die Lokomotive abgekoppelt. Ein SS-Offizier gab den Hinweis, dass ein Waggon mit Sprengstoff beladen sei. Der Zug sollte anscheinend gesprengt werden. Einige Menschen versuchten, diesen Waggon wegzuschieben.
Zwei amerikanische Panzerwagen entdeckten unseren Zug, meine Geschwister gelangten nach draußen und liefen ihnen entgegen. Die Befreiung war um die Mittagszeit, unsere Familie war zusammen. Die Türen der Waggons waren nicht geschlossen, doch viele hatten keine Kraft mehr, sie zu öffnen. Einige waren bereits im Waggon gestorben. Beim Öffnen der Waggontüren sind die Leichen rausgefallen. Meine Schwester Schoschana war mit Typhus infiziert und schwerstkrank. Menschen starben noch nach der Befreiung. Die Amerikaner bauten Lazarette auf. In die Kaserne von Hillersleben und Umgebung wurden kranke Menschen gebracht und behandelt.“
Im Juli 1945 wanderte Sara mit ihren Geschwistern auf einem Schiff ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina ein. Dort lernte sie ihren Ehemann Uri Atzmon kennen, und sie gründeten eine eigene große Familie.
Ein Wiedersehen mit den Befreiern
Viele Jahre später, 2009, traf Sara Atzmon mit ihrem Ehemann Uri ihre Befreier wieder. Sie folgte einer Einladung der Amerikaner an die Überlebenden des „gestrandeten Zuges“ zu einem Wiedersehen in Amerika. Eigens zu diesem Treffen schuf sie ein Modell des verhängnisvollen Waggons mit der Sprengladung, den die Menschen damals versuchten wegzuschieben. Ein Foto davon brachte sie mit in die USA, wo es in einem Museum ausgestellt ist.
Ihr Mann Uri fragte einen der damaligen Panzerwagenfahrer, an was er sich erinnert. „An den Geruch und die vielen Leichen in den Waggons und den Schmutz, das werde ich nie mehr vergessen“, gab er zur Antwort.
Sie selbst kehrte später immer wieder an die Orte der Geschehnisse zurück. Sie besuchte Farsleben und begegnete Schülern in Wolmirstedt, die ihre Enkel sein könnten. 2016 sprach sie zum Holocaustgedenktag im Landtag von Sachsen-Anhalt.
Von: G. Wedel