BE’ER SCHEVA (inn) – „Plötzlich sah ich ein Auge. Und dann erschien Jesu Gesicht.“ Die Szene klingt wie eine wundersame Bekehrung zum Christentum. Doch handelt es sich um eine archäologische Entdeckung in Schivta, im Süden Israels.
Die „wundersame Erleuchtung“ kam der Kunsthistorikerin Emma Ma’ajan-Fanar, als sie die Apsis von einer der drei alten Kirchen in Schivta genauer untersuchte. „Sein Gesicht steht genau da und schaut uns an“, sagte sie, als sie das Wandbild ein Jahrhundert nach der Entdeckung und Freilegung des Kirchengebäudes bemerkte.
Schivta liegt im Herzen des Negev, etwa 40 Kilometer südwestlich von Be’er Scheva. Das Dorf wurde im 2. Jahrhundert vor Christus gegründet und überlebte etwa 650 Jahre. In der frühislamischen Zeit wurde Schivta verlassen.
Kaum Jesus-Abbildungen aus dem alten Israel
Das erste stark erodierte Gemälde von Jesus in Schivta war in der südlichsten Kirche bemerkt worden. Es zeigte Jesu Verklärung, aber sein Gesicht überdauerte die Jahrhunderte nicht. Das zweite Bild zeigt Jesu Taufe und sein Gesicht.
Die Evangelien beschreiben nicht das Aussehen Jesu. Alle Darstellungen sind spätere Künstlerimpressionen. Während Darstellungen von Jesus in alten Klöstern und Kirchen anderswo reichlich vorhanden sind, hat man im alten Israel praktisch nichts gefunden. Überhaupt haben nur wenige frühchristliche Kunstwerke im Heiligen Land überlebt.
Das neu entdeckte Gesicht aus dem Schivta des 6. Jahrhunderts zeigt Jesus mit kurzem lockigem Haar, einem langen Gesicht und einer verlängerten Nase, während im Westen Jesus meistens mit fließendem Langhaar und Bart dargestellt wurde.
Die Ruinen von Schivta wurden erstmals 1871 vom Linguisten und Entdecker Edward Henry Palmer gefunden und haben seitdem viel archäologische Aufmerksamkeit erregt. Aber die Archäologen von einst haben wohl die Wandmalereien nicht beachtet. Das jetzt bemerkte Wandbild ist stark beschädigt und weist jahrhundertelange Schmutzschichten auf. Frühere Archäologen dachten, sie hätten etwas gesehen, aber diese Sichtung wurde nie verfolgt, sagt die Kunsthistorikerin. Sie war mehrmals vor Ort und hatte es ebenfalls nicht bemerkt.
„Ich war zur richtigen Zeit da, am richtigen Ort mit dem richtigen Lichtwinkel, und plötzlich sah ich Augen“, sagt Ma’ajan-Fanar. „Es war das Gesicht Jesu bei seiner Taufe, das uns ansah.“ Ihr Mann, Dror Ma’ajan, machte hochauflösende Fotos von der Stätte. So wurde das seit über 1.500 Jahren verlorene Bild sichtbar: „Wir können ihn jetzt wirklich sehen.“
Jesu Aussehen variiert
Wie Jesus aussah, war Gegenstand von heftigen wie sinnlosen Debatten, da es keine zeitgenössischen Beschreibungen seines Aussehens gibt. Das älteste bekannte Jesusbild fand man im syrischen Dura an der Grenze zum Iran. Es wird auf die Zeit von 233 bis 256 datiert. Vor etwa 1.800 Jahren war Dura eine multikulturelle Metropole, in der Juden, Heiden und Christen alle Gotteshäuser für sich beanspruchten.
Eine Wandmalerei im Baptisterium der Dura-Europos-Kirche zeigt Jesus als den treuen Hirten, der ein Schaf auf seiner Schulter trägt, im ausgesprochen östlichen Stil. Diese Bilder überlebten, weil Mitte des 3. Jahrhunderts die Stadt zerstört wurde, aber die Wandmalereien mit Sand und Steintrümmern aufgefüllt wurden. So blieben sie erhalten. Die Schivta-Bilder entsprechen dem östlichen Stil.
Im Allgemeinen wird Jesus mit braunen Augen dargestellt, basierend auf der allgemeinen (und wahrscheinlich richtigen) Annahme, dass er ausgesehen haben muss wie die Menschen im Nahen Osten vor 2.000 Jahren. Tatsächlich war aber die Küsten-Levante von blauäugigen Menschen bevölkert. Vor etwa 6.500 Jahren kamen arische Migranten aus dem Iran und der Südtürkei. Sie vermischten sich mit den Einheimischen. Deshalb hätten Jesu Augen von blau über haselnussgrün bis braun sein können.
Was sein Haar betrifft, so ist sein Stil in der christlichen Kunst eine Frage von Zeit und Ort – und das unter der Annahme, dass er kein Kahlkopf war. In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurde Jesus auf vielfältige Weise dargestellt: mit kurzen Haaren, langen Haaren, bärtig oder rasiert. Es gab kein Konsensbild. Zum Beispiel zeigen Katakomben in Rom aus dem 4. Jahrhundert Jesus mit kurzen Haaren. So auch die Bilder Jesu, wie sie koptische Christen in Ägypten und frühe Byzantiner in Syrien gezeichnet hatten. Im 6. Jahrhundert wurde Jesus im Westen mit langen Haaren und Bart gezeichnet, während er im Osten noch einige Zeit kurze Haare trug.
Weitere Figuren entdeckt
Die Fotos der Apsis von Schivta seien für Laien nicht sehr hilfreich, merkte Ma’ajan-Fanar weiter an. Die Wandgemälde müssten restauriert werden, was Zeit und viel Geld benötige. In der Zwischenzeit könne man in der Apsis stehen und Verfärbungen sowie rote Linien sehen. Die Hightech-Fotografie half, in der Antike gezeichnete Gesichtszüge zu zeigen und zwei weitere Figuren zu erkennen.
Eine Figur wurde als Johannes der Täufer interpretiert. Er ist groß gezeichnet, während der junge Jesus kleiner dargestellt ist, wie in der byzantinischen Kunst üblich. Das Wandbild befand sich im Baptisterium, nahe dem Taufbecken, was diese Interpretation nahelegt. Die genaue Datierung der Kirchen in Schivta und die Wandmalereien bedarf noch einer Bestätigung.
Das zweite Bild von Jesus in Schivta wurde vor einem Jahr bemerkt. Es ist außergewöhnlich, weil es die „Verklärung“ Jesu zeigt, göttlich strahlend, beim Besteigen des Berges Tabor (alias Kfar Tavor). Bis zum vergangenen Jahr waren nur zwei Darstellungen seiner Verklärung bekannt: Eine im italienischen Ravenna und die andere im Katharinenkloster auf dem Sinai. Dann, im vergangenen Jahr, wurde ausgerechnet in Schivta ein drittes Bild gefunden. Ma’ajan-Fanar meint, dass die frühchristlichen Künstler diese Szene durchaus aufgegriffen hätten, doch die Bilder hätten nicht überlebt.
Nähe von Moschee und Kirche kein Ausdruck von Toleranz
Aus der islamischen Zeit stammt eine Moschee nahe der südlichen Kirche. Einige betrachten ihre Nähe als Beweis für religiöses Zusammenleben und Toleranz. Tepper hält das für eine „sentimentale Interpretation“. Denn die Moschee sei vermutlich errichtet worden, nachdem die Kirche schon verlassen war. „Es gibt undatierte arabische Graffiti in der nördlichen Kirche“, sagt Tepper. Arabische Graffiti wurden auch in anderen alten Kirchen im Negev gefunden. Sie beweisen nicht unbedingt ein gutes Zusammenleben.
Die gesamte Anlage erlebte im späten 8. oder frühen 9. Jahrhundert ihren Untergang, durch Erdbeben oder andere Naturkatastrophen. Übrig blieben nur Ruinen und zwei verwitterte Gemälde von Jesus.
Möglicherweise gibt es noch weitere Bilder, aber die müssten erst noch entdeckt werden. Tatsache ist, dass die Jesus-Abbildungen ein halbes Jahrhundert lang nicht ausgemacht worden sind, obgleich sie nach der Freilegung der Kirchenreste zugänglich waren. Erst mit Spezialkameras wurden die verwitterten Striche und Farben wieder sichtbar.
Von: Ulrich W. Sahm