In Nachlaot, dem urigen Viertel gegenüber dem jüdischen Markt in Jerusalem, geht Schmuel täglich seiner Arbeit nach. Alte Lederlappen, viele Paar Schuhe, Hämmer, Schraubendreher – all das braucht er, um seinen kleinen Schusterladen am Laufen zu halten. Die Wände sind beklebt mit vergilbten Bildern, eine große „Singer“-Nähmaschine steht an der Seite. „Früher war alles, was aus Deutschland kam, sehr gut. Diese Maschine hat Jahrzehnte gehalten und läuft auch heute noch rund. Heute steht ‚Deutschland‘ nur noch drauf, aber tatsächlich ist China drin.“ Der alte Mann schmunzelt vergnügt: „Heute ist alles anders.“
Schmuel freut sich, wenn er Arabisch reden kann. Fröhlich erzählt er in seinem nordsyrischen Akzent: „Geboren bin ich in Syrien, in Kamischli, an der Grenze zur Türkei. Meine Frau ist türkische Jüdin. 1960, als ich 14 Jahre alt war, bin ich mit dem Flugzeug aus Syrien nach Israel gekommen.“ Der kleine Mann wird nachdenklich: „Später kamen meine Geschwister nach. Meine Eltern sind in Kamischli gestorben und begraben.“ Stolz zeigt er auf die alten Fotos, die hinter seinem Arbeitsplatz hängen: „Vom Rabbiner bekamen wir eine Urkunde, dass wir zur jüdischen Gemeinde dort gehörten.“
Verfolgungen und Enteignungen
Doch viel mehr möchte Schmuel über die Vergangenheit nicht erzählen. Zu schrecklich sei gewesen, was sie damals, in Syrien, als Juden erlebt haben. Mit einer großen Schere fährt er geschickt an den Nähten eines rosa Ballettschuhs entlang: „Nie habe ich mit jemandem darüber gesprochen. Einzelne Erlebnisse habe ich meiner Frau erzählt. Dem Rest gegenüber schweige ich.“ Der erst so heitere Gesichtsausdruck hat sich stark verfinstert: „Auch mein Bruder und meine Kinder fragen mich nach dem, was damals passiert ist. Aber ich möchte nicht darüber sprechen. Wenn ich erzählen würde, kämen alle Erinnerungen wieder hoch. Und dann geht es mir schlecht.“ Schmuel ist einer von Hunderttausenden orientalischen Juden. Jahrhundertelang hatten sie in arabischen Ländern gelebt. Doch mit der Gründung des Staates Israel und in den darauf folgenden Jahrzehnten wurden sie aus ihren Heimatländern vertrieben. Weil es den arabischen Führern 1948 nicht gelungen war, den neuen Staat Israel zu zerstören, rächten sie sich an den Juden, die in ihren Ländern unter ihrer Kontrolle lebten. Diese Juden sahen sich Verfolgungen, Pöbeleien, Pogromen und Enteignungen ausgesetzt und flohen aus diesen Ländern, viele von ihnen nach Israel. Bis heute wird ihr Leiden verkannt und sie wurden nie für gestohlenes Eigentum entschädigt.
Worte reichen nicht aus, um Abgründe der Menschheitsgeschichte zu beschreiben. Das Unfassbare des 20. Jahrhunderts, die fabrikmäßige Ermordung von sechs Millionen Juden, haben die Nationalsozialisten „Endlösung der Judenfrage“ genannt, international wird es bis heute als „Holocaust“ bezeichnet. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und heißt „vollständig verbrannt“. Juden in Israel nennen es „HaScho‘ah“, die Katastrophe.
Später machten sich Palästinenser diesen Begriff zu eigen und bezeichnen heute mit „Al-Nakba“ die Flucht und teilweise Vertreibung der etwa 700.000 Araber, die bis 1948 im britischen Mandatsgebiet Palästina lebten. Schnell erklärten Palästinenser den 15. Mai zum Nakba-Gedenktag – das war der Tag, an dem der Staat Israel 1948 seine Unabhängigkeit verkündigte.
Ein neues Leben in Israel
Das, was die orientalischen Juden erlebten, wird von manchen als „jüdische Nakba“ bezeichnet. Wenig bekannt ist, dass in den späten Vierziger- bis frühen Fünfzigerjahren de fakto ein Bevölkerungsaustausch zwischen dem jungen jüdischen und den arabischen beziehungsweise muslimischen Staaten stattfand. Mindestens 850.000 Juden verließen ihre Heimat in den muslimisch geprägten Ländern, um ein neues Leben in Israel zu beginnen.
Die Beweggründe der Einwanderer waren unterschiedlich. Manche entschieden sich aufgrund ihrer zionistischen Einstellung bewusst für den Neuanfang, andere aber hatten keine Wahl. Der israelische Historiker Edy Cohen berichtet im monatlichen „The Tower Magazine“ über seine Familie: „Wir waren libanesische Einwohner in der dritten Generation und ein unzertrennlicher Teil der Straße Wadi Abu Dschamil im jüdischen Viertel von Beirut. Wir wollten nie gehen. Über die Jahre machten wir Verwandtenbesuche in Israel, doch immer kehrten wir nach Hause in den Libanon zurück. In den 1970er Jahren gab es in Beirut etwa 7.000 Juden. Doch langsam wurde unser Leben in der Situation unmöglich. Auf der einen Seite erstarkte die Hisbollah, auf der anderen Seite war die schwache libanesische Regierung – die Juden waren der gleichen Verfolgung ausgesetzt wie schon unsere Brüder und Schwestern vor uns. Wir wurden zu Flüchtlingen, wie sie im internationalen Gesetz definiert werden: Jemand, der aus Angst vor Verfolgung, oder wegen seines völkischen, religiösen oder nationalen Hintergrundes flieht.“ Cohen fügt an: „Als die Hisbollah 1985 zwölf libanesische Juden entführte und ermordete, war uns klar, dass dieser Flüchtlingsstatus nun auch auf uns zutraf.“
Cohen weist weiter auf den Umstand hin, dass die Beschäftigung mit jüdischen Flüchtlingen aus der arabischen Welt häufig lediglich im Kontext des palästinensischen Flüchtlingsproblems gesehen wird. Dieses Phänomen hält er für unangemessen, denn: „Tatsächlich wurden Hunderttausende von Juden, die aus arabischen Staaten flohen, unter Todesangst gezwungen, ihre Länder zu verlassen. Niemals handelten sie aktiv gegen die Länder, in denen sie lebten. Die Palästinenser hingegen führten Krieg gegen ihre jüdischen Nachbarn und drückten offen ihren Wunsch danach aus, die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in Palästina, den Jischuv, zu zerstören. Außerdem verließ ein großer Teil der palästinensischen Flüchtlinge seine Häuser freiwillig, überzeugt davon, dass sie nach der Invasion der arabischen Armeen in einigen Tagen dorthin zurückkehren könnten.“ Cohen führt einen Eintrag der jordanischen Zeitung „Palästina“ vom 19. Februar 1949 an: „Die arabischen Staaten ermunterten die Araber von Palästina zeitweise, ihre Häuser zu verlassen, damit sie nicht mit den arabischen einmarschierenden Kräften zusammenstießen.“
Triumph über die Katastrophe
Vielleicht habe es tatsächlich zwei Nakbas gegeben, sinniert Cohen. Doch er betont, dass die „jüdische Nakba“ nicht nur die Geschichte einer Katastrophe sei, sondern die des Triumphs über das Elend. Während sich die Nachfahren der arabischen Flüchtlinge von 1948 bis heute als Flüchtlinge bezeichnen, zu großen Teilen Unterstützung durch das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) erhalten und davon träumen, künftig nach Israel einzureisen, um die jüdische Bevölkerung allein durch zahlenmäßige Überlegenheit zu überwältigen, haben die meisten jüdischen Flüchtlinge es geschafft, ihre Schwierigkeiten zu überwinden. Mit wenig oder gar keinen Habseligkeiten kamen sie nach Israel und bauten sich eine neue Existenz auf. Viele von ihnen arbeiten erfolgreich als Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte oder Politiker in der Knesset.
Als einen Grund dafür, dass die Geschichte der orientalischen Juden so wenig bekannt ist, führt Cohen den posttraumatischen Zustand an, in dem die jüdischen Flüchtlinge nach Israel kamen. Sie sprachen nicht über die Vergangenheit, die sie hinter sich gelassen hatten.
In den vergangenen Jahren hat der Staat Israel versucht, dem entgegenzuwirken. Am 30. November 2014 wurde in Israel erstmals der Gedenktag für die jüdischen Flüchtlinge aus der arabischen Welt und dem Iran begangen. 2010 wurde ein Gesetz in der Knesset verabschiedet, das die Rechte auf Kompensierung für gestohlenes Eigentum jüdischer Flüchtlinge aus muslimischen Staaten fordert. Cohen betont: Nur wenn der Westen neben der palästinensischen auch die „jüdische Nakba“ anerkenne, bekämen die jüdischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen die Möglichkeit, ihre Vergangenheit angemessen aufzuarbeiten. Und vielleicht wäre dann auch Schmuel in der Lage, seine Geschichte zu erzählen. (mh)